Distributed Leadership oder das Ende der einsamen Helden

Leadership im Umbruch (6)

Ich habe in den letzten Blogbeiträgen versucht, die Grundlagen von Führung vor dem Hintergrund einer systemischen Perspektive auf Organisationen und mit Blick auf das turbulente und komplexe Umfeld, in dem Organisationen gegenwärtig agieren müssen, heraus zu arbeiten.

In den nächsten drei Beiträgen werde ich spezielle Herausforderungen aufgreifen, welche für Führung darüber in speziellen Kontexten entstehen und gleichzeitig auch Orientierung bieten, in welche Richtung Führung sich künftig entwickeln kann.

Im Organisationskontext ist dies zunächst die Tendenz zu geteilter Führung. Distributed Leadership greift Organisationsveränderungen wie Verflachung der Hierarchien, gestiegene Flexibilitätserfordernisse und das Auflösen organisationaler Grenzen auf und begreift Führung als emergente Fähigkeit einer Gruppe oder eines Netzwerks von miteinander interagierenden Personen mit geteilten und wechselnden Führungsfunktionen.

Im Feld der Hirnforschung und der Neurobiologie sind das neue Erkenntnisse die unter dem Label „Neuroleadership“ verdeutlichen, dass Führung nur dann nachhaltig erfolgreich ist, wenn es ihr gelingt, die Emotionen und Bedürfnissen der Mitarbeitenden zu erreichen und Motivation und Sinn zu erzeugen; vorwiegend durch eine Haltung des Einladens, Ermutigens und Inspirierens.

Im Kontext der kritischen Managementforschung werden die gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenerscheinungen mit einer Krise des Managements und der Führung in Verbindung gebracht. Der Diskurs rund um Responsible Leadership fokussiert auf wertorientierte und normative Herausforderungen von Führung im Kontext von vielfältigen Stakeholder-Interessen. Die Organisationen und ihre Umwelten (MitarbeiterInnen, Wissen, Märkte, Shareholder, AkteurInnen der Zivilgesellschaft, KundInnen) werden als Überlebenseinheit gedacht.  Dies erfordert eine aktive Auseinandersetzung der Unternehmen mit ihren Umwelten und in der Folge ein vitales Miteinander als Überlebens- und erfolgssichernde Maßnahme.

In diesem Beitrag steht vorerst Distributed Leadership im Brennpunkt.

Veränderte Führungsanforderungen

Im neuen turbulenten und komplexen Wirtschaftskontext mit den Tendenzen zur Auflösung von Hierarchien, zu Netzwerken und zum Auflösen von organisationalen Grenzen müssen Organisationen auch Entscheidungs- wie operative Führungskompetenzen mehr an die Grenzzonen der Organisation verlagern: Also zu jenen Kräften, die tatsächlich mit Kunden und anderen Stakeholdern in Kontakt sind.

Für Spitzenführungskräfte bedeutet das eine massive Herausforderung: Zum einen Teil gilt es hier am eigenen Selbstverständnis zu arbeiten, denn die Zeiten des Heldentums, also einzelner erfolgreicher und übermächtig erscheinender Unternehmenskapitäne sind damit passé. Zum anderen Teil gilt es für das Top-Management insbesondere auch zu lernen, die operative Kontrolle loszulassen, seine Führungsrolle auf die strategischen Agenden hin zu fokussieren und auch tatsächlich wahrzunehmen. Und es wird zu ihrer Kernaufgabe, die Organisationsarchitektur so zu (mit-)zugestalten, dass neue Notwendigkeiten wie Entrepreneurship und bereichs- und organisationsübergreifende Kooperation in die Organisationsstruktur und –kultur eingewoben werden (vgl. Deiser 2010).

Auch das mittlere Management muss sich verändern: Es wird unternehmerischer agieren müssen, eigene Entscheidungen zu treffen haben und immer öfter auch im Geist einer verantwortlich gebundenen Teilautonomie in Vorlage gehen müssen.

Und nicht zuletzt müssen auch die MitarbeiterInnen ihren Teil an Eigeninitiative und unternehmerischem Handeln übernehmen, etwa im dienstleistungsorientierten Umgang mit Beschwerden von KundInnen und im Qualitätsmanagement.

Es braucht ein Mehr an Führung und Management in der gesamten Organisation

Die damit entstehenden neuen Organisationsformen werden zwar in aller Regel durch flachere Hierarchien gekennzeichnet sein, sie brauchen jedoch gleichzeitig ein Mehr an Management und Führung. Immer mehr Positionen/ Funktionen/ Rollen werden durch Anforderungen gekennzeichnet sein, wie Strategien in konkrete Prozesse übersetzen zu müssen, neue Arbeitsstrukturen zu erfinden oder temporär Teams leiten zu müssen.

Malik (2006, S.64ff.) stellte in diesem Zusammenhang schon vor Jahren fest, dass insbesondere in den modernen Wissens- und Dienstleistungssektoren (Computer, Informatik, Engineering, Bio-Branche, Beratung, Finanzdienstleistungen, Wissenschaft, Kunst und Kultur) der Anteil und auch Bedarf an Führungskräften mittlerweile bei 20 bis 25 Prozent liegt und damit in etwa vier bis fünf Mal so hoch ist, wie in der klassischen Industrie. Und prognostizierte für die Zukunft:

„Es wird viel mehr De-facto-Manager geben, wenn auch unter bisher noch gar nicht bekannten und vermutlich sehr bunten Bezeichnungen, und ihre Aufgaben werden schwieriger sein als heute.“ (Malik 2006, S.67)

Es dürfte dabei aber – wie folgende Schlussfolgerung aus einem großen Organisationsentwicklungsprozess in einer großen Klinik zeigt – nicht bloß um Führung als quantitative Komponente gehen. Vielmehr geht es darum, daß Kompetenzen von Management und Leadership zunehmend zum fixen und notwendigen Qualitätsbestandteil von immer mehr Jobs, Funktionen und Rollen in Unternehmen werden. Kompetenzen und Erfordernisse von Leadership und Führung werden tendenziell zum Bestandteil jedes Jobprofils.

„Um eine Excellenz in der Behandlung zu erreichen, braucht es aber einen zusätzlichen Baustein: Leadership. Leadership ist aber nicht als reine Managementaufgabe zu verstehen, sondern als Identifikation jedes Einzelnen mit dem Behandlungsprozess. Leadership beinhaltet die Übernahme der Verantwortung für die eigenen Handlungen im Kontext des gesamten Prozesses und die fachliche Kompetenz, Entscheidungen zu treffen, Zuständigkeiten einzuschätzen sowie die kommunikative Kompetenz, Entscheidungen dem Patienten oder Mitgliedern der therapeutischen Teams mitzuteilen.“ (Knoth et al. 2012, S.66)

Distributed Leadership und Konsequenzen für das „Leadership Development“

In der Management- und Führungsforschung wird in diesem Zusammenhang seit einigen Jahren von ´distributed leadership´ gesprochen (Bolden 2007; Bennet et al. 2003; Spillane et al. 2004).

Vor diesem Hintergrund wird Leadership weniger im Kontext der Funktionen, Rollen, Aktionen oder auch des Einflusses einzelner Führungspersonen gesehen. Sondern eher als „recognised as integral to the overall direction and functioning of the organisation.“ Der Blick geht weg von einzelnen Abteilungen und Organisationseinheiten hin zum Ganzen und zum Verstehen der Zusammenhänge. Der Fokus dieser neuen Perspektive liegt auf den im organisationalen Kontext geteilten Funktionen und Aktivitäten von Leadership und nicht mehr auf den Charakterzügen und Wesensmerkmalen von Führungspersonen. Die Begründung der Tendenz zum ´distributed leadership´ knüpft an drei Prämissen/ Voraussetzungen an:

  • Leadership als eine emergente Fähigkeit einer Gruppe oder eines Netzwerks von miteinander interagierenden Personen. Das Zusammenspiel von Rollen und Funktionen ist dabei ein wechselseitiges. Es ändert sich fließend und je nach Erfordernissen die durch ein Projekt, eine Aufgabe oder Ziel gestellt werden (zB. abwechselnde Projektleitung und Mitarbeit)
  • Offenheit hinsichtlich der Grenzen von Leadership, das sowohl in der Organisation, als auch zunehmend über die Grenzen der Organisation hinaus wirksam sein muss (denn gerade dort wird Steuerung im Sinne der Kontext-Ko-Gestaltung erforderlich)
  • Und drittens sind die vielfältigen und komplexen Kompetenzen und Wissensformen, welche für die neuen Produktions- und Dienstleistungsprozesse erforderlich sind  „distributed across the many, not the few.“

Es geht demnach weniger um ´Leader Development“ -- als klassische Investition in Humankapital um interpersonelle und individuelle Kompetenzen auserwählter ´High Potentials´ zu entwickeln -- als tatsächlich vielmehr um „Leadership Development“. In diesem Verständnis spielt die Bildung individueller Kompetenzen zwar auch eine Rolle, ebenso wichtig – und bislang ausgeblendet -- sind allerdings Maßnahmen zur Bildung von „social capital to develop interpersonal networks and cooperation within organisations and other social systems.“ (Bolden 2007). Leadership verlangt hier in die Prozesse und Strukturen der Organisation eingewoben zu werden. Es muss integriert sein, in Prozesse der Wissensvermittung, der Innovation und der strategischen Auseinandersetzung.

„Whilst the majority of investment continues to be for individuals in formal leadership roles, a distributed perspective would argue for the development of leadership capacity throughout the organisation.“ (Bolden 2007)

Leadership als Capacity der gesamten Organisation wirft Fragen auf nach der Verankerung von Werten, strategischen Ausrichtungen und gemeinsamen Zielen. Denn eine der Schlüsselfragen lautet ja: Wie kommt es in der geteilten Führung zu gemeinsamer Ausrichtung, Koordination und Wirkung von Führung? Nut wenn es gelingt mittels eines möglichst gemeinsam entwickelten aber jedenfalls getragenen Rahmens aus Werten, Strategien und Zielen den nunmehr vielen Führenden Orientierung in ihrem Führungshandeln zu geben, nur dann kann geteilte Führung eine gemeinsame Kraft und Ausrichtung finden und wirksam sein.