Warum Führungskräfteentwicklung so oft wirkungslos bleibt

Was Führungskräfte und Organisationen können sollten, wenn sie wirksam führen wollen (3)

In mehr und mehr Unternehmen wird Führung inzwischen als ein entscheidender Qualitäts- und Wettbewerbsfaktor gesehen. Führung ist relevant. Führungsdefizite wie mangelnde intransparente Kommunikation, Geheimniskrämerei, Misstrauen, Konfliktvermeidung, mangelnde Wertschätzung oder das Aufschieben von notwendigen Entscheidungen werden thematisiert. Führung muss daher entwickelt werden. Folgerichtig erschallt der Ruf nach Leadership Development. Das Management soll Führungskompetenzen auf sachlicher und persönlicher Ebene ausbilden. Ausbildungsprogramme werden konzipiert, Trainings werden beauftragt und die Führungskräfte werden durch Module und Seminartage durchgeschleust. Nicht selten werden dafür auch ganz beträchtliche Budgets aufgestellt.

Die Ernüchterung lässt meist nicht lange auf sich warten. Denn häufig ändert sich dadurch kaum etwas am realen Führungsverhalten, auch die entdeckten Defizite bleiben hartnäckig bestehen. Kommen die TeilnehmerInnen an Trainings-(programmen) von diesen meist hochmotiviert und voller Tatendrang zurück, so ist meist schon nach den ersten Arbeitstagen ein Verblassen der mitgebrachten Euphorie und Veränderungsideen merkbar. Bald haben sich Alltagsdynamik und Routinen wieder durchgesetzt, der Umsetzungs- und Veränderungseifer ist verflogen. Warum? War die Qualität des Trainingsprogramms schlecht? Haben die TrainerInnen nicht an die Umsetzung gedacht?

Nicht unbedingt. Vielmehr verweisen solche Trainingsergebnisse auf die Frage, wie im betroffenen Unternehmen das Lernen von Personen mit der Entwicklung der Organisation verbunden ist: Welche Vorkehrungen trifft die Organisation, um das Lernen von Personen zu prädisponieren und zu verankern?

Denn zunächst ist keineswegs a priori gewährleistet, daß MitarbeiterInnen und Führungskräfte in Qualifizierungen und Trainings überhaupt lernen. Wenn etwa die Grundmotivation im Voraus nicht passt, weil das Training verordnet wurde oder die gebotenen Lerninhalte bei den MitarbeiterInnen nicht anschlussfähig sind, dann kann es vorkommen, dass ganze Teams zwei Trainingstage einfach aussitzen. Aber selbst wenn die TeilnehmerInnen fest davon überzeugt sind, gelernt zu haben, heißt das noch nicht, dass sie im Sinn der Organisation gelernt haben.

Im Rahmen meiner Forschungs- und Beratungstätigkeit kam mir in unterschiedlichen Varianten immer wieder folgender prototypische Fall unter: Ein Teil des mittleren Managementteams in einem Dienstleistungsbetrieb kommt voll Dynamik und Tatendrang von einem Innovations- und Kreativworkshop zurück. Die Euphorie hält jedoch nur kurz an, einige Wochen später ist der „Geist“ des Innovationsseminars völlig verflogen und ´business as usual´ eingekehrt. Die SeminarteilnehmerInnen sind zum sogar Teil frustriert. Zu deutlich sind sie mit ihrer am Seminar entwickelten Veränderungsenergie an die Grenzen einer lange etablierten Organisationskultur gestoßen, in der Fehlervermeidung ein ganz zentraler Wert ist. In einem solchen Umfeld werden die in einem Innovationsseminar wachgerufenen Geister schlicht als massive Bedrohung erlebt und abgestoßen. Überall wird hervorgekehrt „warum etwas nicht geht.“ Die Organisation ist schlicht nicht eingestellt auf eine neue Form der Wissens- und Kompetenzbildung, sie ist daher dafür auch nicht anschlussfähig. Ed Schein schreibt dazu:

„In der Tat kann das individuelle Lernen zur Gefahr werden, wenn das Wertesystem und die Kultur der Organisation dem Einzelnen nicht genügend Handlungsspielraum lassen. In solchen Fällen ist es für Unternehmen einfach nicht möglich, die individuelle Kreativität zu fördern.“ (Schein 2002, S.21)

Im besten Fall führen Schulungen dann zu Minimalergebnissen im ureigensten Arbeitsbereich (dort wo ich Veränderungen mit niemandem abstimmen muss), die Organisation wird aber kaum sichbar davon profitieren.

Im schlimmeren Fall führt die bestehende Diskrepanz zwischen durch Schulung entwickelten MitarbeiterInnen und sich nicht mitentwickelnden Organisationen zu Demotivation, Frustration und Burn-Out, sofern die MitarbeiterInnen nicht vorher die Organisation verlassen. Je besser, qualitativ hochwertiger und lerneffektiver die Schulung hier war, desto gefährlicher sind die Konsequenzen für MitarbeiterInnen und Organisation. Hochmotivierte veränderungsbereite MitarbeiterInnen prallen dann ungebremst an die gläsernen aber rigiden Mauern der Organisation, die diese Mauern sogar eher verstärken wird, weil sie sich von so viel uneinschätzbarer Veränderungsenergie bedroht fühlt.

Für eine Organisation werden nur jene Kommunikationen von MitarbeiterInnen oder Führungskräften relevant, welche sie nach ihren eigenen Wahrnehmungsmustern als entscheidungsrelevant (an)erkennt (Wolf & Hilse 2009, S.129). Wenn hier die Differenz zwischen den durch Training veränderten Kommunikationen der Individuen und den etablierten Wahrnehmungsmustern der Organisation zu groß oder zu unaufweichlich ist, dann ist das neue Wissen in der Organisation nicht anschlussfähig. Die Organisation lernt ja nicht über Bewusstsein, sondern über die Veränderung ihrer Kommunikations- und Handlungsstrukturen. Nur wenn die Organisation in ihren Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen für das neu erlernte Managementverhalten anschlussfähig ist kann dieses auch integriert werden.

An der Schnittstelle von Personal- und Organisationsentwicklung stellt sich daher aus einer Perspektive von nachhaltigem Lernen und nachhaltiger Entwicklung folgende Leitfrage: Welche Vorkehrungen können Organisationen treffen, um das Lernen von Personen zu pädisponieren und zu verankern? Diese Frage werden wir im nächsten Blog aufgreifen.

Interventionskompetenz zur Führung dynamischer Organisationen in komplexen Umwelten

Was Führungskräfte und Organisationen können sollten, wenn sie wirksam führen wollen (2)

Selbstkompetenz (siehe Blogbeitrag Mai 2013) bezieht sich somit wesentlich auf die Herstellung von persönlicher Handlungsfähigkeit durch das Erschließen eigener Potenziale, durch das Auffinden von eigenen (wenig hilfreichen) Kommunikations- und Handlungsmustern und deren Veränderung und durch Selbstentwicklung. Dies ist die eine Seite der Medaille, ein gelingendes Sich selbst führen als Voraussetzung für das Führen von Menschen und Organisationen.

Die andere Seite der Medaille besteht aus einer entwickelten Interventionskompetenz, die in der Lage ist, jene zentralen Handlungsfelder von Führung, die sich für Organisationen in dynamischen Umfeldern als besonders relevant erweisen, erfolgreich auszugestalten. Es geht hier um Führung im eigentlichen Sinn, also die zielorientierte soziale Einflussnahme auf die Organisation und ihre relevanten Umwelten[1] (MitarbeiterInnen, KundInnen, Kooperationspartner, Technologie, Behörden etc.) zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben.

Es ist mir hier wichtig Führung als spezielle Dienstleistung im Interesse der Funktionsfähigkeit der gesamten Organisation zu begreifen und dann zu fragen: Welche zentralen Handlungsfelder muss Führung erfolgreich bespielen, wenn sie wirksam wein will?

Aus der mehrjährigen Erfahrung in der Beratung von dynamischen Organisationen und auf Basis zahlreicher Interviews mit Führungskräften in mehreren Forschungsprojekten seit Ende der 1990er Jahre scheint mir Interventionskompetenz in Bezug auf folgende acht Führungsfelder besonders relevant zu sein.

1.Orientieren: Für Sinn und Ziele sorgen

Im Handlungsfeld „orientieren“ steht die Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft, den eigenen Kernkompetenzen und der eigenen Identität im Vordergrund. Es geht um das kontinuierliche und zielgerichtete Durchführen von Nachdenk- und Lernprozessen, deren Ergebnis in einem gemeinsamen Wollen besteht und in einem gemeinsamen Verständnis über Ziele und Erfolg bzw. wo er zu suchen und aufzubauen ist.

Folgende Fragen stehen im Zentrum: Wer sind wir? Was ist unser Existenzgrund? Was ist unsere Leidenschaft? Was können wir? Was unterscheidet uns von anderen? Was macht uns einzigartig? Wo stehen wir (im Vergleich zu anderen)? Wohin wollen wir? Was ist unsere Vision? Woran könnten wir erkennen, dass wir unsere Vision erreicht haben? Was sind unsere strategischen Ziele? Welche Wege führen zu diesen Zielen? Welche Risiken sind damit verbunden? Welche Ressourcen haben/ brauchen wir dafür? Welche Potenziale müssen wir bilden und entfalten?

Die spezielle Führungskompetenz in diesem Feld besteht darin, wahrzunehmen, wann es solche Prozesse braucht, solche Prozesse anzuregen, für ihre Durchführung zu sorgen, sich mit eigenen Vorstellungen einzubringen und gleichzeitig Partizipation und Teilhabe zu ermöglichen, so dass das Ergebnis breit getragen und wirksam wird.     
Ein Aspekt ist auch, dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse in der Folge nicht im Alltagsgeschäft verschwinden, sondern handlungswirksam bleiben. Wirksame Führungskräfte verbreiten verdichten die Ergebnisse, bilden Geschichten, verbreiten sinnvolle Theorien, Erklärungen und Legitimationen und stiften Sinn.

Orientierte Organisationen und Mitarbeitende wissen Bescheid über Prioritäten und Fokussierung von Aufmerksamkeit. Sie wissen Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Es entsteht Klarheit was mit Ressourcen zu versehen ist und was nicht.

Spezielle Führungskompetenzen im Feld der Orientierung

  • wahrnehmen, wann es hier einen Orientierungsprozess braucht/ Orientierungsdefizite aufgreifen und zum Thema machen
  • einen Orientierungsprozess auf den Weg bringen (Projekt- und Prozesskompetenz), d.h. erst eine offene Auseinandersetzung über die oben genannten Grundfragen, Organisieren einer Entscheidung und Umsetzungsprozess.
  • die Ergebnisse in die Organisation tragen, sich darüber mit Mitarbeitenden und Stakeholdern weiter auseinander setzen und Sinn stiften.
  • die Vision mitentwickeln, damit MitarbeiterInnen inspirieren. Transparenz darüber herstellen: was ist unser Ziel und wofür ´brenne´ ich als Führungskraft.

2.Steuern: Für Zielerreichung sorgen

Steuern heißt „dranbleiben“. Wie wir in Blog 5 näher ausgeführt haben ist eine Intervention zwar eine zielgerichtete Kommunikation mit der Absicht einer bestimmten Wirkung (es geht beim Führen schließlich um eine zielorientierte soziale Einflussnahme von Personen und sozialen Systemen), die Erzielung der erwarteten Wirkung ist aber zunächst einmal unwahrscheinlich. Denn die Botschaft, die Sie als Führungskraft senden wird nicht einfach ins Zielsystem übertragen, sondern dort erst systemintern konstruiert. Und zwar auf Basis des momentanen emotionalen Zustands und der Erwartungen und Erfahrungen der Person, des Teams oder des Organisationsteils an den Sie die Botschaft adressieren.           

Es geht daher darum, die Systemreaktionen zu beobachten, mit den eigenen Wirkungserwartungen zu vergleichen, Hypothesen über den Hintergrund der Abweichung zu bilden (zB: passende Ressourcen und Strukturen?), Rückschlüsse auf die inneren Strukturen, Prozesse und Befindlichkeiten des Zielsystems zu ziehen (zB: wo liegt gerade die Energie im System?) bzw. angesichts der Ergebnisse auch die Sinnhaftigkeit der eigenen Wirkungsziele zu hinterfragen (zB: unrealistische Erwartungen?) und aus diesem Reflexions- und Abwägungsprozess heraus  einen neuen Steuerungsimpuls zu setzen. Dann wiederum die Wirkung zu beobachten, Hypothesen über die Abweichung zu machen etc.

So besteht steuern vor allem in diesem schleifenförmigen Prozess, der meist mehrere „Nachjustierungen“ in Form eines neuerlichen Durchlaufens dieser Schleife erforderlich macht aber dabei das Erreichen von Zielen nicht aus den Augen verliert.

Spezielle Führungskompetenzen im Feld der Steuerung

  • Beobachten, Hypothesen bilden, Intervenieren, Beobachten...
  • „dranbleiben“ und in Kontakt bleiben
  • das Ziel/ die Ziele im Auge behalten (Effektivität)
  • Kosten/ Nutzen Relation im Blick behalten (Zeit, Kosten, Qualität; Effizienz)
  • Feedback geben

3.Entscheiden –für Reduktion von Komplexität und sicherheit sorgen

„Die wirksame Entscheidung entsteht nicht aus einem Konsens bezüglich der Fakten. Das Verstehen, das einer richtigen Entscheidung zugrunde liegt, erwächst aus dem Zusammenprallen und dem Konflikt divergenter Meinungen und aus dem ernsthaften Erwägen konkurrierender Alternativen.“ (Peter Drucker)

Eine Organisation ist so gut wie ihre Entscheidungen. Organisationen können nur überleben indem sie als basale Form von Kommunikation Entscheidung an Entscheidung knüpfen, dadurch Unsicherheit in Gewissheit verwandeln und Komplexität dabei reduzieren. Aus der Perspektive von Führung weist dieser Fokus insbesondere auf Fragen der Entscheidungsvorbereitung, des Treffens von Entscheidungen und ihrer Umsetzung hin.

In der Entscheidungsvorbereitung geht es vor allem darum, den Prozess lange genug offen zu halten: bis das Problem wirklich klar ist und Anforderungen an eine Lösung definiert sind; und dann mehrere Lösungsoptionen herausgearbeitet und in ihren Risiken und Grenzen eingeschätzt wurden. In dieser Phase braucht es vor allem einen Geist des Beobachtens, Verstehens, Nachdenkens, Nachfragens und Erfindens.

Welche und wie viel Fachexpertise braucht es in dieser Phase um Problem und Alternativen sichtbar zu machen? Wie viel und welche Beteiligung von MitarbeiterInnen und Stakeholdern ist notwendig um alle relevanten Erfahrung und Perspektiven nutzbar zu machen? Welche abgegrenzten Räumen der Vernetzung, des Feedbacks, der Zusammenschau, der gemeinsamen Analyse, Reflexion sind passend um eine angemessene Sicht auf Problem und Alternativen zu bekommen? Das sind Schlüsselfragen in dieser Phase.

In der Entscheidungsphase geht es immer darum, tatsächlich eine Wahl zu treffen. Hier dominiert eine politische Logik, es geht um Interessen und Macht. Die Kunst ist hier, geeignete Räume, Kontexte und Designs herzustellen, welche ein konstruktives und an der Zukunftsfähigkeit der Organisation ausgerichtetes Bewältigen der Gegensätze unterstützen und ermöglichen. Eine gute Entscheidung ist eine Funktion aus ihrer inhaltlichen Qualität und ihrer Akzeptanz, d.h. gute Entscheidungen müssen so zu Stande kommen, dass sie auch mitgetragen werden.

Denn erst in ihrer Umsetzung kann eine Entscheidung zu einer guten Entscheidung werden. In dieser Phase geht es vor allem darum, den Umsetzungsprozess zu ´steuern´ (siehe oben). Als Führungskraft voran zu gehen, die Entscheidung mitzuteilen, zu begründen und daraus sich ergebende Veränderungen anzuleiten; allfällige Pilotprojekte mit auf den Weg zu bringen und dafür Sorge zu tragen, dass es geeignete Räume der Reflexion von Umsetzungserfahrungen gibt.

Spezielle Führungskompetenzen im Feld der Entscheidung

  • Entscheidungen erfordern Zeit und Aufwand. Organisationen versuchen Entscheidungen auf ein Minimum zu reduzieren. Die Kompetenz von Führung besteht daher vor allem darin, Entscheidungsnotwendigkeiten aufzugreifen und Platz für Entscheidungen in die Organisation einzubauen.
  • Entscheidungsprozesse als Abwägungs- und Kommunikationsprozesse zu gestalten
  • Die drei Phasen von Entscheidungen differenzieren zu können und ihren jeweiligen Erfordernissen gemäß auszugestalten; und zwar im Spannungsfeld von Komplexität und Unsicherheit, zwischen Öffnung und Schließung der Diskussion relevante Unterschiede in Richtung einer Entscheidung zu ´balancieren´ und diese dann auch umzusetzen.
  • Die damit verbundenen Spannungen und Widersprüche gilt es auch als Person, als Team, als Führungssystem auszuhalten.

4.Führungsbeziehungen gestalten: Für MitarbeiterInnen und Teams sorgen

In ihrer sozialen Verfasstheit verweisen Organisationen auf die Relevanz von gelingender Beziehungsgestaltung und auf den Erfolgsfaktor Kommunikation. Emotionen, ihre Bearbeitung, sowie Motivation und Energie der Mitarbeitenden geraten in den Blick und bilden ein zentrales Feld der Führungsintervention.

Führungskräfte sind meist Teil eines Führungsteams, sie führen ihr eigenes Team und haben in verschiedenen Kontexten direkten Kontakt zu anderen MitarbeiterInnen der Organisation. In all diesen Kontakten bilden und prägen sie soziale Beziehungen. Nur wenn es der Führungskraft gelingt, in diesen Beziehungen Anschlussfähigkeit an die Erwartungen der KollegInnen und der MitarbeiterInnen herzustellen und Vertrauen aufzubauen, können diese gut in die gemeinsame Zielverfolgung eingebunden werden.          
Die Klärung wechselseitiger Erwartungen, eine damit einhergehende Rollenklarheit und eine kontinuierliche Fortsetzung eines wechselseitigen Feedback- und Erwartungsklärungsprozesses sind ebenso grundlegend für gelingende Führungsbeziehungen wie eine Haltung der Wertschätzung, des Respekts und des Vertrauens und bilden die Basis für Engagement, Loyalität und Leistungsbereitschaft von Mitarbeitenden.

Gelingende Führungsbeziehungen sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Mitarbeitende ihre personennahen Begabungspotentiale und Wahrnehmungsmöglichkeiten möglichst umfassend in die Organisation einzubringen. Oft kann in Organisationen erst dadurch  jene organizational capability entstehen, die es Organisationen ermöglicht, besonders risikoreiche und komplexe Aufgaben zu bewältigen (vgl. Wimmer 2009, S.234f.). Auf der anderen Seite einer gelungen Führungsbeziehung stehen damit aber auch Vorkehrungen, der Tendenz zur unbegrenzten Vereinnahmung von LeistungsträgerInnen vorzubeugen (Stichwort Burn-Out).

Spezielle Führungskompetenzen im Feld der Gestaltung von Führungsbeziehungen 

  • „Supportive Leadership“: Führen durch Einladen, Ermutigen und Inspirieren (siehe Blogbeitrag 10)
  • Fragen und Zuhören
  • in Kontakt kommen/ bleiben, Respekt, Achtsamkeit; Wahrnehmen von Überforderung und Unterforderung
  • soziale Intelligenz als „Fähigkeit, andere zu verstehen sowie sich ihnen gegenüber situationsangemessen zu verhalten
  • Empathie und Klarheit

5.Change: Für passende Strukturen und Prozesse sorgen

Angesichts sich dynamisch verändernder Umwelten, Kunden und Märkte (Stichworte: „Speed of Change“, Wandel ist die Konstante) besteht für Organisationen heute immer wieder die Notwendigkeit, möglichst frühzeitig Veränderungsprozesse einzuleiten und neue Strukturen zu implementieren bzw. existierende Abläufe und Prozesse weiter zu entwickeln.

Führungskräfte müssen also – parallel zu Prozessen der Routinisierung, Stabilisierung und Normierung – auch Prozesse bereitstellen, die Veränderung, Dynamik, kalkulierte Unsicherheit und Irritation auslösen und damit das System mit jener Spannung versorgen, die es zur nachhaltigen und zukunftsfähigen Erfüllung seiner Aufgaben benötigt. Entscheidungsmechanismen, Rollendefinitionen, Ablaufstrukturen, Kooperationsbeziehungen, Besprechungen, Erfolgskriterien und Erfolgsmessungen werden damit zum Thema.

Die Schlüsselfrage ist dabei immer: Passen diese Strukturen und Prozesse (noch), kann die Organisation ihre Aufgaben damit gut bewältigen? Oder besteht Veränderungsbedarf, weil sich Erwartungen von KundInnen, Technologien oder auch strategische Ziele verändert haben?

Davon ausgehend stehen folgende Fragen im Zentrum: Besteht ein "Need for Action"? Gibt es Leidensdruck und wo zeigt er sich (Zuständigkeitslücken, unklare Rollen, Konflikte...)? Was ist das Ziel? Was ist nach dem Veränderungsprozess gelöst oder ist dann anders? Welche positiven und konkreten Zukunftsbilder sind damit verbunden? Braucht es Optimierungen? Reicht es aus, Veränderungen in einigen kleineren Bereichen des Unternehmens vorzunehmen (einzelne Fachbereiche, einzelne Hierarchieebenen, einzelne Abläufe, Infrastruktur, Hilfsmittel...)? Ist ein grundlegender Wandel notwendig? Müssen auch Normen und Verhaltenweisen, Werteebenen und Regeln der Zusammenarbeit einbezogen werden? Wie entsteht echtes Commitment? Wer soll wann und in welcher Rolle in den Veränderungsprozess eingebunden werden? Wie viel Einbindung der Betroffenen ist nötig, damit die Ergebnisse tatsächlich umgesetzt werden?

In Zeiten rasanten Wandels und komplex-chaotischer Umwelten steht dabei die „Organizational Capability“ im Vordergrund in organisatorischen Alternativen und neuen Organisationsdesigns zu denken und – innerhalb des Unternehmens, aber insbesondere auch im Umgang mit KundInnen, KooperationspartnerInnen und anderen relevanten Stakeholdern – phantasievolle organisatorische Strukturen zu entwickeln.

Spezielle Führungskompetenzen im Feld Organizing und Change

  • Veränderungsbedarf wahrnehmen und zum Thema machen
  • Need for Action klären – für eine positive Zielperspektive sorgen
  • Geeignete externe Unterstützung/ Beratung hinzuziehen
  • Den Veränderungsprozess mitgestalten/ mitsteuern

6.Learning: Für Potenzialentfaltung und Innovation sorgen

Innovation steht im Zentrum der gegenwärtigen Wettbewerbsdynamik. Interessant ist das vor allem deshalb, weil das Innovationsgeschehen auf den ersten Blick nicht im Rahmen einer Organisationslogik des Stabilisierens, Planens und Berechnens organisierbar ist. Innovation korrespondiert vielmehr mit günstigen oder weniger günstigen Rahmenbedingungen und –faktoren. Dosi (1988, S.222) kam schon vor mahr als 25 Jahren zur grundlegenden und ungebrochen gültigen Schlußfolgerung „In an essential sense, innovation concerns the search for, and the discovery, experimentation, development, imitation, and adoption of new products, new production processes and new organisational set-ups”.

Ein solcher Prozess kann weder kodifiziert noch formalisiert werden, er beruht vielmehr auf vielfältigen Lernprozessen, die in alltägliche ökonomische Aktivitäten eingebettet sind und in die viele Akteure involviert sind. “Learning by doing”, “learning by using” und “learning by interacting” (Edquist 1997, 16f.) gewinnen damit an Relevanz.

Lernen beginnt dort, wo eigene Erwartungen irritiert werden und diese Irritation gleichzeitig auf eine Grundhaltung trifft, die es ermöglicht, sie auch wahrzunehmen und in einen Reflexionsprozess überzuführen: Was ist der Hintergrund der Abweichung von Erwartung und beobachtetem Ergebnis?

Oft muss hier erst hart an einer tief verwurzelten organisationskulturellen Barrieren gearbeitet werden: Wenn etwa Fehler als individuelles Versagen klassifiziert und negativ sanktioniert werden (rigide Fehlerkultur) oder wenn die Organisation von sich ein Selbstbild weitgehender Fehlerlosigkeit gebildet hat und Abweichungen gar nicht vorkommen dürfen. Hier wird die Differenz zwischen irritierender Wahrnehmung und Erwartung ignoriert, kleingeredet, als Sonderfall eines völlig zufälligen und unwahrscheinlichen Zusammenkommens von ungünstigen Umständen abgetan oder sonstwie gerechtfertigt und kleingeredet.

Der Magic Moment of Learning entsteht also in jenem kurzen Moment zwischen dem Eintreten der Irritation/ Überraschung und dem Übergehen zur Normalität. Diesen Moment gilt es zu nutzen, wer hier zu lange wartet, dem wird die Lernchance im Sog des Alltagsgeschäftes wieder entschwinden.

Aufgabe von Führungskräften in diesem Kontext ist es vor allem, als Schnittstelle zu den relevanten Umwelten zu fungieren, um die Organisation, „mit den notwendigen Irritationen und Anstößen aus der Umwelt bzw. von den Kunden zu bzw. von den Märkten zu versorgen.“ (Wimmer und Schumacher 2009, S.175). Und gleichzeitig auch dafür Sorge zu tragen, daß passende Zeiten und Räume vorhanden sind, um die mit diesen Irritationen verbundenen Lernchancen zu nutzen. In der Organisation sollen damit Lernprozesse und Entwicklungsprozesse angestoßen werden, die eine Differenz zu sich selbst erzeugen, also zur eigenen Perspektive als Führungskraft, zum Führungssystem, zu organisatorischen Routinen und Strukturen.

Die Kunst der Lernintervention und des Kreierens von Lernkontexten besteht daher auch darin, zumutbare Irritationen zu designen,

„ (…) to optimize the degree of difference and irritation. If there is nothing new to experience, there is little to learn. But the same happens if there is too much difference – if you teach high school content to a first grader, even the smartest cannot learn.” (Deiser 2010, S.25f.)

“Creating ´designed spaces of irritation´ is at the heart of the learning practice, no matter if the space is a classroom, an organization or a business process.” (Deiser 2010, S.26)

Spezielle Führungskompetenzen im Feld des Learning

  • Relevante Umwelten in der angemessenen Komplexität beobachten,  relevante Unterscheidungen wahrzunehmen und als Entwicklungsimpulse in/ an jene Personen, Organisationsteile und Stakeholder zu spielen, die damit ihr Potenzial im Sinne der Organisationsstrategie entfalten können.
  • Räumedes Dialogs und des Lernens/ Lerngänge auf den Weg zu bringen (d.h. fördern, unterstützen, begleiten, mitsteuern)
    • welche auch in die Lage versetzen, existierende kognitive Landkarten zu erschüttern und eine Sensitivität für künftige Herausforderungen und Veränderungsnotwendigkeiten entstehen zu lassen.
    • welche die Entfaltung von Potentialen stimulieren, zB. durch die maßgeschneiderte Abfolge von dialogischem Austausch, externen Perspektiven, spannenden Inputs von Außen, inspirierenden Fragestellungen, schöpferischen Gesprächen, Gruppenübungen und Probehandeln.
    • welche aus dem Abarbeiten und Reagieren immer wieder auch ein bewusstes Handeln und Gestalten von Zukunft machen.
    • in welchen sich das für den Leistungsprozess und den Prozess des Organisierens relevante Wissen emergent bildet und die Begrenzungen der Räume so zu setzen, dass das Wissen outputorientiert und strategieanalog gebildet wird
  • Die Lernprozesse co-steuern, d.h. immer wieder auch beobachten, was aus den Entwicklungsimpulsen geworden ist, Hypothesne bilden, neue Impulse/ Interventionen.

7.Konflikte bearbeiten: Für handlungsfähige MitarbeiterInnen und Teams sorgen

Industriebetriebe, Forschungsinstitute, Architekturbüros oder Non-Profit Betriebe: Moderne Organisationen weisen eine enorme Leistungsfähigkeit auf. Doch sie produzieren gleichzeitig Koordinationsprobleme, Überforderung und zwischenmenschliche Reibungen. Organisationen werden zur geeigneten Bühne für Konflikte, da in Organisationen immer unterschiedliche Logiken zusammen gebracht werden müssen (zB.: ökonomische Logik, Expertenlogik, Technische Logik, bürokratische Logik, Ausbildungslogik etc.) und Widersprüche daher quasi konstitutives Element von Organisationen und einer komplexen Arbeitsteilung sind.

Zunächst ist für Führung also Folgendes relevant:

„Je mehr Widersprüche eine Organisation verträgt, ohne ihre Funktionsfähigkeit einzubüßen, desto besser kann sie sich weiterentwickeln und an Umweltveränderungen anpassen.“ (Schwarz, Konfliktmanagement, S.29)

Gleichzeitig tendieren Konflikte aber auch zur Eskalierung, sie werden als Kampfsituationen wahrgenommen und entfalten eine innere Konfliktdynamik, die eine friedliche, konstruktive und gewaltfreie Regelung zunehmend macht. Konflikte bedürfen daher der Intervention und Entschärfung durch Führung.

Es gilt zu klären, auf welcher Ebene der Konflikt tatsächlich verortet ist. Auf den ersten Blick – und leider geht Konfliktintervention all zu oft nicht über diesen ersten Blick hinaus -- werden Konflikte auf der Personenebene verortet: A ist B unsympathisch und/ oder umgekehrt, daher können die beiden nicht miteinander. Tatsächlich steht oft ein Problem auf der Struktur- und Prozessebene dahinter (A vertritt die Logik des Verkaufs; B vertritt die Logik der Forschung und Entwicklung) manchmal auch ein Problem auf der Ebene der Gruppendynamik.

Führungsinterventionen in Konflikte sollten daher primär versuchen, Konflikte zu entpersonalisieren und nach den dahinter liegenden Widersprüchen fragen. In der Folge gilt es  einen emotional sicheren sozialen Rahmen für die Auseinandersetzung zwischen den Konfliktparteien zu schaffen (zB.: extern begleitetes Konfliktlösungsgespräch, Etablierung eines Verhandlungssystems), der geeignet ist den Konflikt zu de-eskalieren. Je nach Bedeutung des Konfliktes und dem Grad seiner Eskalation kann die Führungskraft hier selbst in eine vermittelnde Rolle schlüpfen oder mit externer Hilfe ein Bearbeitungssystem etablieren.

Spezielle Führungskompetenzen im Feld der Bearbeitung von Konflikten

  • Konflikte wahrnehmen und in geeigneter Form zwischen den Konfliktparteien zum Thema machen
  • Ein emotional sicheres Bearbeitungssetting auf den Weg zu bringen
  • Je nach eigener Rolle die Konfliktbearbeitung mitsteuern
  • Erkenntnisse aus dem Konflikt für allfällige Maßnahmen der Organisationsentwicklung nutzen

8.Kooperieren – Für nachhaltiges Überleben in einem starken Partner – und Stakeholdernetzwerk sorgen

Vor dem Hintergrund eines komplex-dynamischen Wirtschaftsumfeldes wird es auch immer weniger wahrscheinlich, dass eine wirtschaftliche, technische oder gar gesellschaftliche Problemlage von einer Organisation sinnvoll allein zu bearbeiten ist. Es zeigt sich auch, dass dort wo früher hierarchisch aufgebaute Unternehmensriesen Produkte und Leistungen ´In-House´ erstellt haben oder Verwaltungsorganisationen Versorgungsleistungen direkt erbracht haben, heute diese Güter und Leistungen von einer Vielzahl eigenständiger und damit eigensinniger Betriebe zur Verfügung gestellt werden.

Die Fähigkeit zur Kooperation wird daher zum kritischen und entscheidenden Wettbewerbsfaktor.

Es geht darum, an den und über die Grenzen der eigenen Organisation hinaus Prozesse des Kollaborierens zu etablieren, distributed co-creation processes, dieses neue Interface sorgfältig auszugestalten und damit neue Grenzen/ Grenzformen zu gestalten.

Doch Kooperation ist auch notwendigerweise mit dem Verlust direkter Kontrolle verbunden. Im entstehenden Multi-Stakeholdernetzwerk gibt es keinen Boss und keinen Vorgesetzten, keine vordefinierte Macht und Autorität. Damit wird Führung dort auch anspruchsvoller und komplexer, auch weil Interessenkonflikte, Wertekonflikte und normative Herausforderungen zunehmen.

Es braucht Zusammenarbeit durch Verhandlung und Aushandlung und neue Formen von Verbindungen und Kopplungen zwischen Organisationen. Dies ist eine neue, sehr anspruchsvolle Aufgabe: Wie können bindende Kommunikations-, Arbeits- und Entscheidungsstrukturen zwischen Organisationen eingeführt werden? Wie kann Kooperation und Konkurrenz balanciert werden? Wie eng oder lose sollen Kooperationen und Netzwerke geknüpft werden? Welche Spielregeln sind nötig? Welche Steuerungsansätze eignen sich für das Management von Kooperationen? Wie sind Fusionen kooperativ zu gestalten?

Der Fokus verschiebt sich von der einzelnen, vertikal aufgebauten Organisation zu einem Mix horizontaler Organisationsbeziehungen wie Netzwerken, Leistungsverbünden, Clustern, Joint Ventures, Public Private Partnerships. Vor diesem Hintergrund gerät die Gestaltung von Koordinationsprozessen ins Zentrum der Frage relevanter Qualifikationen des Managements. Führungskräfte, Stabsmitarbeiterinnen, Berater stehen vor neuen Herausforderung, die spezielle und oft unterschätzte Kompetenzen benötigen.

Eine der zentralen Herausforderungen für Führung – darauf haben wir auch schon im Blogbeitrag 11 zum Thema Responsible Leadership hingewiesen – besteht daher darin, die Stakeholderbeziehungen des Unternehmens im Umfeld potenziell konfligierender Interessen und Werte zu pflegen und zu gestalten und im Falle von Konflikten einen Ausgleich/ eine Balance zwischen den werthaltigen Ansprüchen der unterschiedlichen internen und externen Stakeholder herzustellen. Das bedarf neben dem situativen Management auch der Entwicklung neuer Strukturen. Der Führungskraft kommt in diesem Sinne die Rolle eines „Weavers“ zu (Maak/Pless 2006b: 112), eines Webers von Beziehungen, eines Mediators und Netzwerkers. (Pless & Maak 2008, 235)

Spezielle Führungskompetenzen im Feld der Kooperation

  • Die Fähigkeit sich mit externen Umwelten auseinander setzen zu können, also zum Beispiel mit unterschiedlichen professionellen Sprachen, unterschiedlichen Anspruchsgruppen, unterschiedlich kulturellen Rahmenbedingungen.
  • Kenntnisse über die Eigenlogik von Großgruppen und Kompetenz in der Leitung von Großgruppeninterventionen (organisationsübergreifender Multi-Stakeholder-Ansatz)
  • Kompetenz in organisationsübergreifender Prozesssteuerung
  • Kompetenz im Umgang mit dem Erwartungsdruck unterschiedlicher ‚Stakeholder'.
  • Verhandlungsfähigkeit zur Klärung unterschiedlicher Erwartungen und zur Definition von Aufträgen, die den Möglichkeiten und Voraussetzungen entsprechen

...und zur Quintessenz

Tatsächlich dürfte die Selbstkompetenz so etwas wie die ´conditio sine quo non´ oder das Herz wirksamer Führung in volatilen Umwelten sein. Die Voraussetzung um in den oben genannten Führungsfeldern erfolgreich intervenieren zu können. Claudius Fischli, Schweizer Psychologe, Gruppendynamiker und Psychotherapeut, ortet – quasi als Kern der Verbindung von Selbstkompetenz mit den oben angeführten Interventionskompetenzen -- letztlich auch das wichtigste Steuerungsmittel und Managementinstrument für Führungskräfte:

„Das Nachdenken über sich selbst, Lagebesprechungen, die Organisation von Reflexion und Feedback sind das wichtigste Steuerungsmittel und Managementinstrument über das Führungskräfte verfügen.“  (Fischli 2012, S.44)



[1] siehe dazu insbesondere auch Blogbeitrag 5 und Blogbeitrag 11.

Selbstkompetenz

Was Führungskräfte und Organisationen können sollten, wenn sie wirksam führen wollen (1)

Verfügen Führungskräfte und Organisationen gegenwärtig über jene Kompetenzen und Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, wirkungsvoll zu führen? Was sollten Führungskräfte können, angesichts eines komplexen und ambivalenten Anforderungsdschungels von turbulenten, unübersichtlichen und sich permanent verändernden Umwelten?

Diese Fragen drängen sich nach den letzten Blogbeiträgen zum Themenfeld ´Leadership im Umbruch´ geradezu auf.

Im Frühsommer 2010 führte ich ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Österreich-Geschäftsführer eines deutschen Pharma-Unternehmens (im Folgenden Herr GF genannt).  Dieses Gespräch war Teil einer Interviewserie mit Führungskräften im Rahmen einer Studie zur Entwicklung von Führungskompetenzen, die ich gemeinsam mit KollegInnen der Universität Klagenfurt damals durchgeführt habe (Mayer et al. 2010). Interessant war dieses Interview für mich vor allem deswegen, weil es ein zentrales Ergebnis der gesamten Studie fast prototypisch auf den Punkt brachte: Die überragende Bedeutung von Selbstkompetenz als Gesamt von emotionalen und sozialen Kompetenzen und von Kompetenzen der Selbstthematisierung und Selbstreflexion.

Selbstkompetenz als Herz der Führungskompetenzen

Auf meine Frage, welche Herausforderungen sich für seine Organisation mit Blick auf eine mögliche Führungsentwicklung stellen, verweist Herr GF zunächst auf die gerade für junge Führungskräfte sich stellende Herausforderung, das eigene Selbstbild durch Abgleich mit Fremdbildern zu relativieren und zu entwickeln.

„Am Anfang, gerade für die, die am Anfang der Laufbahn stehen, gibt es ein paar grundsätzliche Dinge, die ich für sehr wichtig halte. Das eine ist Selbstreflexion, Eigenbild/Fremdbild, daß man da sehr früh beginnt, weil ich erlebe auch bei jungen Leuten oft schon, daß sie glauben, sie haben schon das Zeug für den großen Marketingleiter und wundern sich warum sie nicht an der Stelle sitzen, aber es fehlt völlig an diesem realistischen Eigenbild.“

Ein zweiter daran anknüpfender Punkt zielt auf die Notwendigkeit, sich selbst relativieren und hinterfragen zu können und Fehler eingestehen zu können

„Also das habe ich früher unterschätzt und da schaue ich heute mehr darauf und das man da halt konsistent ist seinem Handeln. Und wenn man dann einmal nicht konsistent war auch bereit ist, sich zu entschuldigen und zu sagen, nein da habe ich mich falsch entschieden, weil das passt eigentlich nicht und aus den und den Gründen nehme ich die Entscheidung zurück. Also auch das gehört dazu.“

Ein weiterer Punkt stellt auf eine achtsame Kommunikation ab, um Gemeinsamkeiten zu finden und Konflikten vorzubeugen.

„Das, ich meine ich bin da halt auch ein bisschen Konstruktivismus, ich sage halt der Griff ist rechts und die sagen der ist links und beide haben recht. Man versucht die Sichtweise des anderen erst einmal zu verstehen bevor man seine Dogmen aufstellt. Es ist ja nicht so, dass man im Alter zwingend klüger wird, oft wird man ja auch engstirniger und ich glaube das ist ein zweiter wichtiger Punkt, daß man hier einfach auch vom Gespräch von der Kommunikation, wenn ich sehe wie viele Konflikte einfach nur deshalb entstehen, weil beide recht haben und beide recht haben wollen und dann aber nicht mehr versuchen, das auch mal zu klären, warum das so ist.“

Der letzte Punkt weist auf die Sensiblität für Strukturen und Regeln und deren Entwicklung hin.

„Und das vierte ist halt so ein bisschen sehr schwer zu lehren glaube ich, weil das muss man erleben, dass man so im Zusammenleben gewisse Regeln braucht, damit die Einzelnen sich dann frei entfalten können. Und das ist für mich was, wo ich halt auch mit den Kindern gelernt habe und ob das im Unternehmen oder mit den Kindern oder im Sportverein ist, das ist überall das gleiche. Wenn die Regeln nicht klar sind, dann weiß keiner wie weit er gehen kann, und sieht auch gar nicht, welche Freiräume er hat und dann gibt es unnötige Verletzungen und Kompetenzstreitigkeiten.

Tatsächlich bestätigen die schon angesprochene Studie (Mayer et al. 2010) sowie auch viele Gespräche die ich im Rahmen von Trainings und Beratungen immer wieder führe, die besondere Relevanz der von Herrn X angesprochenen Themenfelder.

Die Kompetenz der Selbstführung wird immer wieder prominent angesprochen und zwar unter folgenden Gesichtspunkten:

  • Innehalten;
  • Wahrnehmen, Beobachten und Unterscheiden; die Fähigkeit Beobachtungen zu machen, Unterschiede und Widersprüche wahrzunehmen und erstmals beschreibend zu verarbeiten (nicht gleich erklären und bewerten);
  • relevante Unterschiede und Widersprüche zwischen dem Selbst und anderen wahrzunehmen, erst einmal auszuhalten und damit einen Umgang zu finden; dabei eigene Gefühle wahrnehmen, beschreiben, befragen und einschätzen – Gefühle zum Denken nutzen und nicht gleich dem ersten Handlungsimpuls zu folgen;
  • die Fähigkeit, Distanz zu entwickeln zum unmittelbaren Geschehen, zu den unmittelbar drängenden Entscheidungsnotwendigkeiten, so etwas wie innere Distanz zu gewinnen, um besser entscheiden zu können;
  • die Eigenschaften der eigenen Persönlichkeit kennen(lernen) und die eigenen Interessen und Werte zu ergründen;
  • sich selbst motivieren zu können und Gratifikationen aufschieben zu können;
  • Empathie zu üben, sich auf Personen und Situationen einlassen;
  • Präsent zu sein, als Fähigkeit, sich auf das zu konzentrieren, was im Hier und Jetzt geschieht;
  • In guter Verbindung zu sich selbst und den eigenen Bedürfnissen zu sein und gleichzeitig auch zu meinen KommunikationspartnerInnen und ihren Bedürfnissen;
  • Fragen und Zuhören lernen, andere Perspektiven wahrzunehmen und Feedback nachzufragen wie Feedback zu geben;
  • Das notwendige Maß an Selbstreflexion zu entwickeln und in der Lage sein, das eigene Bild individuell und kollektiv mit dem Fremdbild anderer Bezugsgruppen zu verbinden;

Ich habe im Blogbeitrag 10 zum Thema ´Neuroleadership´ schon ausgeführt, daß die Entwicklung und Aktivierung eines Systems der Selbststeuerung im Kontext erfolgreicher Führung auch für die neuere Hirnforschung von zentraler Bedeutung ist. Erst der gelingende Zugriff auf das Selbst verbindet erkennende und kognitive Leistungen mit Emotionen und Körperwahrnehmungen und bezieht dadurch Informationen wie es zB. um die eigene Bedürfnisbefriedigung aussieht in Entscheidungsprozesse mit ein.

Responsible Leadership - oder die Rückkehr von Werten und Verantwortung in die Organisation

Leadership im Umbruch (8)

Führungskräfte und Management sind ins Gerede gekommen. Insbesondere im Gefolge der Finanzkrise und begleitend zu Umweltkatastrophen wie der von BP verursachten Ölpest im Golf von Mexiko oder dem Reaktorunfall in Fokushima war in den Medien immer wieder die Rede von der ´Gier der Bankern und Manager´. Und von Führungskräften, welche die ´Bodenhaftung verloren´ hätten, ´unter zunehmendem Realitätsverlust´ litten, in ´Selbstbedienungsmentalität nur mehr in die eigene Tasche´ wirtschafteten, ´ausschließlich den schnellen Profit und eine kurzfristige Gewinnorientierung im Kopf hätten´ und bei schlechter Peformance mit einem ´goldenen Fallschirm´ rechnen könnten.

Veränderte gesellschaftliche Erwartungen an Führungskräfte...

In den allermeisten Fällen wurde diese Kritik an der unternehmerischen Führung moralisierend vorgetragen und als persönliches charakterliches Versagen der Manager als Individuen angeprangert. Systemische Aspekte des vermeintlichen Managementversagens blieben dabei weitestgehend ausgeblendet. Die daran anknüpfende öffentliche Debatte erschöpfte sich in Klischees und Kampfrhetorik vor allem mit Blick auf die Höhe der Managergehälter. Eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Frage des Handeln und Lernens von Führungskräften und Organisationen im Kontext der gesellschaftlichen Krisenphänomene blieb bislang aus.

Gerade eine solche sollte aber dringend entfacht werden, sind doch Führungskräfte heute einerseits mit einem drastischen Verfall des Vertrauens seitens weiter Teile der Bevölkerung konfrontiert, andererseits aber genau so mit rasant steigenden Erwartungen der Gesellschaft an die Ziele und die Wirkung des Managements -- wie z.B. „Not harming the environment“, „Treating employees fairly“, „Ensuring responsible supply chain“ , „Providing quality products/services at lowest price”, “Reducing impact on climate change” (Mirvis et al. (2010).[1]

Vor dem Hintergrund, dass die politischen Systeme als Lösungsfeld der großen Probleme derzeit kaum Wirkungskraft mobilisieren und selbstreferentielle politische Spiele die Bühne dominieren (Stichworte: Verwaltungsnotstand in den USA oder die Schuldebatte in Österreich) sind Unternehmen und Führungskräfte zunehmend mit der Erwartung von immer mehr Stakeholdern konfrontiert, mehr Engagement, Einsatz und Verantwortung für grundlegende Problemstellungen unserer Zeit zu zeigen.

......und die Frage der Verantwortung

Zweifellos: Führungskräfte haben -- gerade in einer sich globalisierenden, komplexen, vernetzen und turbulenten Welt in der zentrale Steuerungsressourcen der Politik weitgehend ausgehöhlt scheinen – Macht, Mittel und Möglichkeiten diese Welt und damit auch ihre Probleme und Lösungen mitzugestalten. Aber wofür sind Führungskräfte hier wirklich verantwortlich, wofür können sie verantwortlich gemacht werden?

Was heißt verantwortliche Führung? Und wer ist hier wem gegenüber verantwortlich? Wo besteht Mitverantwortung für die Lösung gesellschaftlicher Probleme? Wo macht Einmischung Sinn, und wo ist sie vielleicht auch wenig wünschenswert?

In den letzten Jahren hat sich die Führungsforschung vermehrt mit diesen Fragen beschäftigt. Und dabei – abseits der oben angesprochenen moralisierenden Zeigefingerrhetorik -- im Spiegel der Diskurse von Responsible Leadership, Transforming Leadership und Competing Values Leadership eine Vielfalt von interessanten und praxisrelevanten Fragestellungen und Einsichten zu Tage gefördert.    
Aber auch Führungskräfte und Organisationen ließen und lassen sich vermehrt auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Fragen ein. Daraus sind ebenfalls schon eine Menge an interessanten Praktiken, Initiativen und Good Practices entstanden.

Im Folgenden möchte ich einige dieser Fragen, Erkenntnisse, Praktiken und Beispiele, die ich für besonders interessant halte, vorstellen und diskutieren; und dann insbesondere auch deutlich machen, daß sich daraus gerade für die Führungsentwicklung und die Organisationsentwicklung nicht unwesentliche Konsequenzen ergeben.

Handlungsleitende aber überholte Bilder von Führung und Management

Es sind traditionelle und dennoch aktuelle Bilder und verfestigte gesellschaftliche Vorstellungen von Führung und auch von Führungsverantwortung die uns prägen und die unsere Handlungen orientieren. Diese Bilder geraten in jüngster Zeit in Kritik, vermehrt auch vom Management selbst, von BeraterInnen und von der Managementforschung.

Ein antiquiertes ´Maschinen Mindset´ von Führungskräften[2]

Danica Purg (2013), Leiterin der IEDC Business School in Bled und bekannte Management-Vordenkerin, stellt hinsichtlich des vorherrschenden Denk- und Handlungsparadigmas von Führungskräften fest, dass -- ausgehend von der betriebswirtschaftlichen Theoriebildung und anknüpfend an die Newton´sche Mechanik -- immer noch stark das Vorherrschen eines antiquierten ´Maschinen-Modells´ das Mindset der Führungskräfte bestimmt. Folgende Logiken sind dafür charakteristisch:

  • Analytisch-trennender und zerlegender Zugang in der Organisationsdiagnose
  • Der Blick auf die Personen als austauschbare Komponenten
  • Spezialisierung als dominante Erfolgsstrategie für Organisationen
  • Das Ausblenden der Selbstorganisations, Selbtsentfaltungs- und -heilungskräfte in Organisationen: Organisationen müssen entweder quasi von Aussen durch das Management erhalten und gesteuert werden oder sie gehen unter.

Führung ist persönliches Charisma rationaler autonomer Heldenfiguren

"Wenn wir heute von einer globalen Krise sprechen, dann sprechen wir zugleich von einer Krise der Führung. Denn Führung hat die Umstände geschaffen, die jetzt beklagt werden. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit hier weniger auf die einzelnen Führungspersonen, sondern auf Führung als gesellschaftliches Phänomen. (...)

Das „narzisstische Zeitalter“ hat ein Führungsideal hervorgebracht, das Führung auf persönliche Merkmale und angeborene Fähigkeiten (wie etwa „Charisma“) reduziert und zu einer Frage der einzelnen Persönlichkeit macht. Es handelt sich dabei um eine Verwechslung oder Gleichsetzung von Führung und Führungskraft. Die entscheidenden Fragen lauten deshalb: Welche Aufgaben hat Führung? Was soll eine Führungskraft tun?" (Seliger 2009, S.22f.)

Ruth Seliger – Wiener Unternehmerin, Beraterin, seit vielen Jahren im Geschäft der Führungsentwicklung aktiv – bringt es auf den Punkt: Die Krise ist eine Krise der Führung und des gesellschaftlichen Ideals von Führung mit seiner Fixierung auf Helden mit Charisma und ihrer moralischen Glorifizierung.

Interessant ist, dass dieses Bild vom charismatischen Helden ergänzt wird vom Bild der Führungskraft als rationalem und autonomem Akteur. Das scheint ein Widerspruch zu sein, beruht doch die Führungswirksamkeit von Charisma in erster Linie auf emotionalen Qualitäten und bleibt gerade auch durch die Abhängigkeit von der emotionalen Zuschreibung durch die Followers immer auch eine ziemlich fragile Angelegenheit.           

Die Verteilung von ratio und emotio scheint irgendwie in Unbalance zu sein: Hier die rational agierenden und Emotion auslösenden Führenden, dort die emotional empfänglichen Geführten.

Die einzige Verantwortung von Führung besteht in der Erhöhung von Profiten

„There is one and only one social responsibility of business – to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition without deception or fraud.“  (...).“ (Friedman 1970: 55).

Als sogenannte Friedman-Doktrin prägt diese – über eine Unzahl von MBA-Lehrgängen vermittelte -- Vorstellung der Engführung von Führungsverantwortung auf die Erhöhung von Profiten mittlerweile mehrere Generationen von Managementverantwortlichen seit den 1970er Jahren. 
Dennoch denken und handeln Führungskräfte heute zum Teil auch anders. Exemplarisch dafür Ray Anderson, Chairman von Interface, einem mittelgroßen Hersteller von Teppichböden in den USA:

„A corporation makes a profit to exist. It’s not the other
way around. It’s doesn’t exist just to make a profit. And, in my view, it ought to exist for some higher purpose than just shareholder value. And that higher purpose extends to responsibility for all creation. At least to the extent that [the] corporation intrudes on creation, intrudes on the natural systems, it has a responsibility to reduce that footprint.

It has a responsibility to all the stakeholders as well the people that work for and make up that company. The company is its people and the customers and the suppliers and the communities where the company operates. It has a responsibility in all of those directions. So the purpose of the corporation is to take into account all stakeholder interests.“ (zit. in Mirvis et al. 2010, S.11)

Gute Führung ist effektive Führung – Effektive Führung ist wertneutral

Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunderlich, dass auch die Führungsforschung im ausgehenden 20.Jahrhundert im wesentlichen auf die Frage der effektiven Zielerreichung messbarer Ziele beschränkt blieb, wie etwa Produktivität, Profitabilität, Shareholder-Value oder KundInnenzufriedenheit und zwar „without concern as to the ‚goodness’ or the end or of the means“ (Freeman et al. 2006, zit. In: Pless & Maak 2008, S,229). Die effektive Zielerreichung kann daher auch nicht Gegenstand einer Reflexion aus einer ethischen oder werthaltigen Perspektive sein, sie ist innerhalb dieses Denkrahmens wertneutral (Pless & Maak 2008, S.229).

Auch dieser Frame des alten Führungsparadigmas wird zunehmend in Zweifel gezogen. Eine Veränderung der Werte und eine Orientierung an Werten wird von Führungskräften eingefordert, in der nachfolgenden Passage von Anita Roddick, Gründerin und langjährige Lenkerin von Body Shop:

„We, as business leaders, can and must change our views and our values. Less than a century ago, visionary business leaders were hooted out of business associations for saying that businesses had a responsibility to support charity; they were told that the concept of “good corporate citizenship” was radical pap.... Depressions and world wars changed them; global poverty and environmental destruction must change us now.“ (zit. in Mirvis et al. 2010, S.15)

Gegenstand von Führung sind dyadische Führungsbeziehungen in hierarchischen Organisationen

Unsere leitenden Bilder von Führung wurden in der Hochblüte von Taylorismus und Massenproduktion ab Mitte des 20.Jahrhunderts aus der Erfahrung mit hierarchischen und bürokratischen Organisationen generiert. Dementsprechend tayloristisch geprägt ist auch das Organisationsverständnis, das mit diesem Führungsverständnis verbunden ist: Organisationen als hierarchisch geordnete und rationale Gebilde zur Herstellung von Planbarkeit, Berechenbarkeit und Ordnung (siehe dazu Blogbeitrag 4). Innerhalb dieser Organisationen wurden Führungsbeziehungen dyadisch entlang einer vertikalen Achse gedacht: Am einen Ende der/ die denkende Führende, am anderen Ende der die ausführende MitarbeiterIn.

In heutigen Organisationen sind MitarbeiterInnen jedoch nur noch EINE von mehreren Gruppen im Stakeholder-Portfolio neben Kunden, Zulieferern, Technologiepartnern, anderen Kooperationspartnern, Behörden und/ oder der Kommune vor Ort. Der Fokus von Führung verlagert sich daher auf Aktivitäten des

...building, cultivating and sustaining trustful relationships to different stakeholders, both inside and outside the organization, and in coordinating responsible action to achieve a meaningful commonly shared business vision. (Maak 2007, S.331)

Komplexe Stakeholdernetzwerke als neue Räume für die Bildung von verantwortlicher Führung

Gerade dieser letzte Punkt zeigt die Grenzen des traditionellen im Industriezeitalter geprägten Führungsverständnisses auf. Organisationen sind heute fast unvermeidlich in mehr oder weniger komplexe Stakeholdernetzwerke eingebettet. Daraus entstehen Anforderungen an Führung und Führungsbeziehungen, die im Rahmen des alten Paradigmas nicht bearbeitet werden können. Denn im Rahmen dieses Paradigmas wurden keinerlei Sensorium dafür ausgebildet, Werte und ethische Grundorientierungen wahrzunehmen und zu entwickeln. In Unternehmen war es daher auch lange nicht üblich ethisches Orientierungswissen zu generieren.

Wir beobachten, dass sich Organisationen zunehmend – wenn auch mit großen Unterschieden nach Branche, Organisationsgröße und regionalen Spezifika -- in Richtung flacherer und organischer Organisationsformen verändern, welche sich um ihre Kerngeschäft und ihre Kernkompetenzen herum aufstellen, viele andere Tätigkeiten aber outsourcen bzw. in Kooperationen gemeinsam mit Partnern bearbeiten (Deiser 2010). Damit gewinnen – neben den MitarbeiterInnen -- auch externe Anspruchsgruppen wie KundInnen, Zulieferer, Kooperationspartner, Regulierungsbehörden, Medien, NGOs etc. zunehmend Einfluss auf die Tätigkeit und Entwicklung der Organisation. Das hat wesentliche Auswirkungen auf Anforderungen, Aufgaben und Handlungsspielräume von Führung.

Von dyadischen Führungsbeziehungen zu Führung als Stakeholder Phänomen

Abseits der Beziehung von Führungskraft und MitarbeiterInnen wird Führung zunehmend zum Stakholder-Phänomen, d.h. Beziehungen zwischen Führenden und Geführten als gleichrangige Stakeholder gewinnen an Relevanz. Das entstehende Universum an Stakeholdern will gestaltet und gesteuert werden, eine Schlüsselaufgabe von Führung.

Führen ohne die Ressource von Positionsmacht und Hierarchie

In solchen Stakeholdernetzwerken an den Grenzen der Organisation gibt es allerdings in aller Regel keinen Chef und auch keine Mitarbeitenden. Auf die vertrauten Ressourcen von Positionsmacht und Hierarchie muss meist gänzlich verzichtet werden und es stellt sich die Schlüsselfrage: „Can an organizational leader be effective with no reliance on institutionalized power or authority?“ (Schneider 2002, S.209).

Ohne vordefinierte Macht und Autorität wird Führung äußerst anspruchsvoll und komplex, insbesondere auch, weil in diesem Universum von Stakeholdern mit unterschiedlichen Werten und Interessen zu rechnen ist.

Führen in einem Umfeld von konkurrierenden Werten

Führung findet damit in einem Umfeld von (mehr oder weniger latent) konkurrierenden Werten und Interessen statt. Das ist tendenziell ein Nährboden von Konflikten, die jederzeit aufpoppen können und das auch immer wieder tun. Ziel ist es, mit diesen zum Teil konfligierenden Werthaltungen diverser Anspruchsgruppen einen reflektierten werthaften und verantwortlichen Umgang zu finden.

Erfolgreich ist Führung hier dann, wenn es gelingt mit den unterschiedlichen Stakeholdern in einen Aushandlungs- und Kommunikationsprozess zu treten, die relevanten Unterschiede transparent und verhandelbar zu machen (d.h. relevante Ansprüche müssen auch adäquat formuliert werden) und immer wieder Ausgleich und Balance zwischen den wertbasierten Ansprüchen der verschiedenen internen und externen Stakeholdergruppen herzustellen.

Dazu braucht es einen verständigungsorientierten Umgang mit diesen Stakeholdergruppen, Beziehungsgestaltung zu diesen Stakholdern und adäquate Kommunikations- und Verhandlungssysteme. Führungskräfte nehmen hier die Rolle eines „Weavers“ ein „eines Webers von Beziehungen, eines Mediators und Netzwerkers.“ (Pless & Maak 2008, S.235)

Führung braucht Werte und Wertbewußtsein

Um diese Prozesse des Webens eines Beziehungsnetzwerks, des mehr oder weniger permanenten Aushandelns und Balancierens von unterschiedlichen Interessen und Werten wirkungsvoll leisten zu können braucht Führung darüber hinaus auch Bewusstsein und Klarheit über eigene persönliche Werte (Was ist mir wichtig?) bzw. die Werte der eigenen Organisation (Was ist unserer Organisation wichtig?). Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen eigenen Werten und den Werten der relevanten Bezugssysteme (Organisation, diverse Stakeholder, Gesellschaft).        
Interventionen im Sinne eines Ausgleichs von Balancen in diesem Multi-Stakeholder Netzwerk werden nur dann gelingen können, wenn die intervenierende Führungskraft vorab eine gewisse Grundklarheit über die eigene Wertelandkarten in Relation zu anderen relevanten Wertlandkarten  hat. Dies ist sozusagen das relevante ethische Orientierungswissen, das erst eine Navigation im und durch den ´Stakeholderwertedschungel´ ermöglicht.

Responsible Leadership kann nur im konkreten Kontext und seinen Widersprüchen entwickelt werden

Erst auf dieser Basis einer klaren Wertelandkarte kann in der konkreten Auseinandersetzung und im Diskurs mit den relevanten Stakeholdern einer Organisation ermittelt und entwickelt werden was Responsible Leadership letztlich ausmacht. Verantwortliche Führung in diesem Geflecht vielschichtiger Stakeholderbeziehungen heißt Werte und Interessen wahrzunehmen, Widersprüche zu erfassen, aufzugreifen, in Aushandlungsprozesse zu bringen, zu balancieren,  und auf diese Weise gemeinsame Wertorientierungen und kooperative Wertschöpfungsprozesse auf Augenhöhe (weiter) zu entwickeln. Aussagen darüber, was verantwortliche Führung ausmacht oder woran Führungserfolg in einer Multi-Stakeholder Gesellschaft zu messen ist lassen sich nur in einem Auseinandersetzungs- und Reflexionsprozess klären (Pless & Maak 2008).

Verantwortung als normative und ethische Orientierung kann nur auf diese Weise und in diesem Kontext entstehen, und nicht jenseits davon oder durch Zuruf von Außen. Dadurch entstehende geteilte Werte und ethische Grundorientierungen. Als gelebte Ethik wurzeln und manifestieren sie sich damit in den alltäglichen Prozessen, sie sind ursächlich mit der Praxis verbunden. Dies ist der Unterschied zu einer Ethik, die in Ethikkommissionen erdacht wird. Dies ist äußerst relevant, denn überall dort, wo es keine Praxis und keine Umsetzung gibt wird normative Handlungsorientierung (die es ja dann als Handlung nicht gibt) von Außen aufgesetzt und moralisch. Es kommt dann eher zu einer Entethisierung durch Ethik, als Zeigefinger der entweder gehoben drohend oder verspottend von außen/ oben auf das zu treffende System zeigt. Das ist genau was in den letzten Jahren als Managerbashing (oder im anderen Fall auch als Politikerbashing) zunehmend passiert.

Ethische Orientierungen müssen daher immer als Teil der Organisations- oder Systemkultur kultur mit-gebildet werden. Ethik muss im professionellen Handeln angelegt und manifestiert sein. Denn nur so können relevante Widersprüche des Feldes erfahren, wahrgenommen, reflektiert und thematisiert werden und dann dieses Widerspruchsfeld mit Wertorientierungen zu konfrontiert und ausbalanciert werden. Diese Widersprüche erfordern es „sich mit ihnen grundlegend auseinanderzusetzen und sich permanent an ihnen „abzuarbeiten“ und dabei auftretende Konflikte nicht zu scheuen. Sie sind als notwendigen Teil des „Widerspruchsmanagements“ zu begreifen.

Die Einbeziehung von Stakeholdern treibt die nachhaltige Entwicklung voran

Stoner und Wankel (2009, S.10f.) gehen davon aus, dass das bewusste Einbeziehen von externen Stakeholdern tendenziell zu einem mehr auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Unternehmenshandeln führt, da dadurch eine Strategie des langfristigen Überlebens von Organisationen – im Gegensatz zu kurzfristigen Profitinteressen – wieder mehr in den Blick gerät.

Eine Möglichkeit von Responsible Leadership ist hier der bewusste Aufbau und die Gestaltung von Beziehungen zu kritischen NGOs. NGOs können dann ´Issues Leadership´ übernehmen, indem sie Führungskräfte darin beraten, wie ein Unternehmen seiner sozialen und ökologischen Verantwortung besser gerecht wird (zB: Chiquita und Rainforest Alliance oder die zB: strategische Partnerschaft von Timberland und City Year).

Die Zivilgesellschaft als relevanter Stakeholder

Eine organisierte und starke Zivilgesellschaft als Protagonistin und Terrain lebendiger, kritischer und innovativer Diskurse und Konflikte kann ein entscheidender Hebel sein, um relevante Stakeholder-Perspektiven und Interessen aus den Umwelten der Organisationen (MitarbeiterInnen, ökologische Ressourcen, neues Wissen etc.) an die Organisationen heranzutragen und einzufordern.

This causes manifold challenges for both profit and non-profit organizations regarding its exchange with its environments. They are obliged to confront themselves with a wide range of different stakeholders, both internally and externally. Looking at the international political and economic development clearly shows that the exchange with the organized civil society will be a driving force for both the local and the global development. And this development will be predominantly driven by the exchange between big, innovative and successful enterprises and stakeholders of the civil society. Phil Mirvis et al. have observed and accompanied this development over a long period in their work on “Corporate Citizenship” (Grossmann 2013)

Die System- Umwelt- Überlebenseinheit als Analyse- und Handlungsrahmen für Führung in der MUlti-Stakholdergesellschaft

Die neuere Systemtheorie liefert für Führung in der Multi-Stakeholdergesellschaft mit der theoretischen Konstruktion der „System-Umwelt-Überlebenseinheit“ einen brauchbaren auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Analyse- und Handlungsrahmen: Wie alle lebenden Systeme sind Organisationen an ihrem Überleben und an der Aufrechterhaltung ihrer Identität interessiert. Wenn man die Organisationen/ Systeme mit ihren relevanten Umwelten – also den MitarbeiterInnen, dem Wissen, den Märkten, den Shareholdern, den AkteurInnen der Zivilgesellschaft, den KundInnen – als Überlebenseinheit denkt, dann erfordert das auch eine aktive Auseinandersetzung der Unternehmen mit ihren Umwelten. Und in der Folge ein vitales Miteinander als Überlebens- und erfolgssichernde Maßnahme.   
Im Gegensatz dazu suchen derzeit viele Unternehmen „den Erfolg zu Lasten dieser Umwelten durch Externalisierung von Kosten zu den MitarbeiterInnen, dem nationalen politischen System, den öffentlichen Haushalten und der physischen Umwelt.“ (Grossmann et. al 2007, S.61). Und dennoch zeigen die Befunde aus den dargestellten Leadership-Studien (siehe oben) hier auch Tendenzen einer Trendwende.

Was Organisationen und Führungskräfte tun können, wenn sie verantwortliche und Gute Führung entwickeln wollen

Es ist heute üblich, dass Organisationen Führungskompetenzen auf sachlicher und persönlicher Ebene ausbilden. Ausbildungsprogramme werden konzipiert, Trainings beauftragt, dann werden Führungskräfte durch Module und Seminare geschleust. All zu oft ist das Ergebnis dann ernüchternd, das reale Führungsverhalten ändert sich kaum, auch vorab definierte Defizite bleiben bestehen. Ein wesentlicher Grund dafür ist häufig, dass die geschulten Personen an die gläsernen Mauern ihrer Organisation stoßen, die auf solche Veränderungen nicht eingestellt ist. Strukturen, Prozesse und vor allem die Organisationskultur wurden nicht mitentwickelt und reagieren auf das neue Wissen und die neuen Haltungen irritiert und mit Abstoßung.

Aus dem Diskurs rund um Responsible Leadership lässt sich gerade hinsichtlich dieses Abstoßungsprozesses aus meiner Sicht für die Führungsentwicklung folgendes lernen.

Gemeinsames Erarbeiten einer Wertelandkarte zur Orientierung im Stakeholderdschungel...

Führung findet heute immer mehr im Kontext vielschichtiger Stakeholderbeziehungen und potenziell konfligierender Werte statt. Diese Gemengelage ist komplex, widersprüchlich und unübersichtlich. In einem ersten Schritt geht es daher um Orientierung. Führungskräfte müssen sich den eigenen organisatorischen und gesellschaftliche Kontext überhaupt einmal erst bewusst machen. Sie müssen die vielfältigen Beziehungsstrukturen zu den internen und externen Stakeholdern und die darin eingewobenen Wertvorstellungen erst einmal erkennen, einschätzen und zu den eigenen Werten und den der Organisation in Beziehung setzen. Bevor es um verantwortliche Gestaltung des komplexen Beziehungsnetzwerkes mit all seinen Widersprüchen geht, braucht es also diesen Prozess der Auseinandersetzung mit der Situation und der Lage, in der man sich befindet. Folgende Frage kann – wenn sie im Führungsteam gemeinsam bearbeitet wird -- für erfolgreiche Führung hilfreich sein:

Was verstehen wir in unserer Organisation und angesichts unserer Lage (wirtschaftliche Lage, Erwartungen von Stakeholdern) unter guter und erfolgreicher Führung?

Die gemeinsame Bearbeitung dieser Frage hilft zu verstehen, wie die Einschätzung der eigenen Position mit Strategie und Führung zusammenhängen. In der Reflexion über diese Frage wird einerseits deutlich werden, für welches aktuelle und welche zukünftigen Probleme des Unternehmens Führung eine Lösung sein kann. Andererseits wird transparent, welche Werte Führung zu Grunde liegen sollen und wie diese im Einklang mit den Erwartungen von Stakeholdern im Besonderen und der Gesellschaft und Öffentlichkeit im Allgemeinen. Führungskräfte hätten damit eine Basis, ein ethisches Orientierungswissen, um ihre Rolle und Verantwortung bei der Integration von Werten und wertebasierten Ansprüchen im Stakeholdernetzwerk adäquat wahrnehmen zu können.

Maak & Ulrich (2007, S.379) schlagen ergänzend dazu auch noch folgende Frage vor:

Wer soll wen führen – auf welcher normativen Grundlage – mit welchen Mitteln – zu welchem Zweck?

Die erste Teilfrage gibt hier Aufschluss über die eigentliche Führungsbeziehung und den Führungskontext der gerade in einem komplexen Stakeholdergeflecht all zu leicht außer Sicht gerät. Die zweite Frage klärt, auf welcher normativen Grundlage, auf welchem Werteboden Führung stattfinden soll. Die dritte Teilfrage zielt auf den Aspekt von Legitimität und Macht. Wie darf Macht eingesetzt werden, wo sind die Grenzen? Welche Führungsmittel sind legitim? Die vierte Teilfrage hat Führungsziele, Organisationsziele und auch die Strategie im Fokus.

...als voraussetzungsvoller Prozess der Reflexion und Selbstthematisierung

Die gemeinsame Arbeit und Reflexion an diesen Fragen braucht auf Ebene der Führungskräfte wie auch der Organisation „den Willen und die Fähigkeit Werte und Annahmen zu thematisieren, zu untersuchen und damit den Willen, die eigenen Grundannahmen zur Disposition zu stellen.“ (Pless & Maak 2008, S.231). Es muss Bewusstsein und Anerkennung dafür bestehen, dass es für eine verantwortliche Führungspraxis wichtig ist, eigene Werte in Relation zu den Werten der relevanten Stakeholder zu reflektieren und daran anknüpfend eine Führungsstrategie zu entwickeln. Denn „Aussagen darüber, was verantwortliche Führung ausmacht, oder woran Führungserfolg in einer Stakeholder-Gesellschaft zu bemessen ist, lassen sich nur in der Reflexion auf, und mittels des Diskurses über diese Fragen machen, nicht jenseits davon.“ (Pless & Maak 2008, S.227)

Die Arbeit an guter und verantwortlicher Führung braucht daher auch geeignete soziale Räume und Kommunikationssettings, in welchen diese Form der Reflexion möglich ist. Und – hier schließt sich der Kreis – ist es Aufgabe von Führung die gute Führung will, für die Herstellung solcher Räume zu sorgen. Führungsentwicklung ist hier in erster Linie Organisationsentwicklung als Prozess der Gestaltung von passenden Kommunikationsstrukturen und Verhandlungssystemen in der Organisation und mit den Stakeholdern, in welchen gemeinsam an den Fragen von guter und verantwortlicher Führung und Kooperation gearbeitet werden kann.

...und Basis einer gelingenden Führungsentwicklung.

Die Arbeit an guter und verantwortungsvoller Führung kann daher auch nicht im Rahmen klassischer Führungsentwicklung als Trainingsprogramm wahrgenommen werden. Es geht vielmehr darum, einen geeigneten Prozess der Reflexion und Auseinandersetzung als kooperatives Geschehen der Führungskräfte zu initiieren und dann auch kontinuierlich zu betreiben, in dem die Grundlagen von Führung regelmäßig neu eingeschätzt und weiter entwickelt werden. Dies ist quasi die Basis der Führungsentwicklung, die Arbeit an der Haltung und den Werten. Wenn diese Basis gegeben ist, kann die Arbeit an den Führungskompetenzen – und zwar gleichermaßen der Personen wie der Organisation – erst beginnen.



[1] Die gesamte in diesem Beitrag im Text angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.

[2] Siehe dazu auch Blogbeitrag 4/ 2012: Warum das Maschinenmodell zwar immer noch handlungsleitend, aber immer weniger wirksam ist.

Neuroleadership - oder was Führung von Hirnforschung und Neurobiologie lernen kann

Leadership im Umbruch (7)

„Die Wirkung von ´Führung´ ist heute in einem solchen Ausmaß zustimmungsabhängig geworden, dass ein individueller Wille einer hierarchisch auch noch so hoch angesiedelten Person letztlich hilflos aussieht. Ein traditionelles Verständnis von Steuerung erscheint heute als ein nahezu infantil anmutendes, antiquiertes ´Wunscherfüllungsparadigma´ von dem sich viele Führungskräfte zumindest in ihren verbalen Deklarationen schon verabschiedet haben.“ (Krainz 1994, S.207)

Interessant ist, dass es mittlerweile schon fast 20 Jahre her ist, dass diese Anforderung an Veränderung von Führung von Ewald Krainz formuliert wurde. Doch was hat sich seither getan?

Führungsverhalten noch immer im Schatten der Hierarchie....

Ich stelle in Organisationen zunehmend folgende Diskrepanz fest: Einerseits gibt es weithin ein Bewusstsein dafür, dass klassische Hierarchien der Vergangenheit angehören. Zu rasch ändern sich Märkte, Technologien  und KundInnenbedürfnisse, zu unerwartet treten externe Krisen ein. Die geforderte Anpassung und Veränderung, der Umgang mit den Anforderungen von volatilen, komplexen und turbulenten Umwelten kann im Rahmen hierarchischer Steuerung nicht bewältigt werden. Fast in allen Organisationen im Profit und im Non-Profit Bereich gibt es daher den Ruf nach neuen Organisationsformen, flacheren Hierarchien, lateralen Beziehungen, horizontalen Wertschöpfungsketten, netzwerkförmigen Strukturen, Projektorganisation, Matrixformen etc. Und auch dementsprechende Versuche solche neuen Organisationsformen einzuführen.

Andererseits bleibt das Führungsverhalten all zu oft dennoch ein unverändert hierarchisches. Gerade Führungskräfte des mittleren Managements die zu mir zum Coaching kommen berichten, daß ihre Abteilungsleiter, Vorstände oder Geschäftsführer oft primär mit Anweisung, Kontrolle agieren. Es wird von der übergeordneten Ebene in den Verantwortungsbereich des mittleren Managements hineinregiert, und das noch dazu oft unberechenbar und willkürlich. Da wird versucht, Schwächen mit Sanktionen auszumerzen, es wird Druck ausgeübt und bewußt überfordert, also „ausgequetscht“. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die betroffenen Manager, dann selbst auch kaum anders agieren, wenn es darum geht, ihr eigenes Team zu führen.

...mit negativen Konsequenzen für Organisationen

Für die Organisationen hat diese Diskrepanz ziemlich schädliche Folgen, die sich unmittelbar in mangelnder Motivation, innerer Emigration der betroffenen Führungskräfte und ihrer MitarbeiterInnen oder im schlimmsten Fall im Burn-Out zeigen. Die neuen Organisationformen erfordern angesichts der komplexen Verhältnisse zu Recht Selbststeuerung und Selbstorganisation. Wenn es Führung hier nicht gelingt Selbstorganisation und Selbstverantwortung zu entwickeln und zu aktivieren, also wirklich zum Leben zu bringen, dann wird auch jede innovative Organisationsveränderung mittel- und langfristig wirkungslos bleiben. Das ist letztendlich nichts anderes, als wenn ein Herzchirurg in einer topmodernen auf Laser-, Argon- und Ultraschalltechnologie ausgerichteten Klinik die Herz-OP nicht minimalinvasiv durchführen würde, sondern mit dem Wissensstand der 1970er Jahre.

Neuerdings nimmt sich die Hirnforschung des Führungsthemas an, Neuroleadership scheint zum neuen Hoffnungsschimmer am Horizont der Führungsentwicklung zu werden. Und tatsächlich gibt es aus diesem Bereich einige bemerkenswerte Erkenntnisse, welche Führung vor neue Herausforderungen jenseits hierarchisch geprägter Steuerungsoptionen stellen.

„The brain runs on fun“ – Begeisterung als Voraussetzung von Lernen, Kreativität und Innovation[1]

Von Hirnforschern und Neurobiologen wurde das Gehirn bis zum Ende des letzten Jahrhunderts im Rahmen eines linearen und hierarchischen Steuerungsmodells als Schaltzentrale und Maschine[2] begriffen, das in der Kindheit und Jugend entwickelt wird, dann als ´ausgereiftes´ Hirn im Erwachsenenalter benutzt wird und dessen Zellen und Verschaltungen mit zunehmendem Lebensalter langsam absterben.     
Nun sind es aber gerade Erkenntnisse und Befunde aus der Gehirnforschung, die sowohl das traditionelle an der Maschinenmetapher angelehnte Bild des Gehirns, als auch den traditionellen Lern- und Entwicklungsapproach als nicht mehr zeitgemäß erscheinen lassen.

Denn aus der Sicht der Gehirnforschung ist mittlerweile klar, dass das Gehirn zeitlebens formbar und damit auch entwicklungsfähig ist, und zwar so „wie man es eben mit Begeisterung benutzt“, d.h. das menschliche Gehirn passt seine innere Organisation und Struktur an die Art seiner Benutzung an. Begeisterung spielt dabei eine Schlüsselrolle, denn „The brain needs emotional activation in order to emit neuroplastic transmitters which are fertilizers for the brain: excitement and activement. They are never released if you learn a telephone book.“ (Hüther 2010) Diese ´Fertilizer´ wiederum sind die Basis für Hochleistungen des Gehirns und die Voraussetzung für neue Ideen, Kreativität und Innovation. Sie werden beispielsweise bei einem die Welt entdeckenden dreijährigen Kind im Schnitt zwischen 50 und 100 Mal am Tag ausgeschüttet, während sie bei einem 60jährigen Erwachsenen nur noch zwei Mal am Tag freigesetzt werden.

Aus der Perspektive der Hirnforschung sind Lernen und Entwicklung sind demnach vor allem Prozesse emotionaler Aktivierung, Aktivitäten die an einer Begeisterung und einer Sehnsucht anknüpfen.      
Diese Sehnsucht wiederum ist in zwei Grundbedürfnisse eingewoben, die für jeden Menschen existenziell sind: a) das Bedürfnis nach Bindung zu einer Gemeinschaft, nach Zugehörigkeit und integriert sein und b) das Bedürfnis nach Wachstum und Entwicklung à Herausforderung und Gelingen.

In Unternehmen/ Organisationen wird diese Begeisterung und Sehnsucht oft durch zwei mächtige Feinde blockiert: Druck und Routinen bzw. Erfolg. Führungskräfte können aber im Rahmen eines Supportive Leadership durch ermutigen, einladen und inspirieren eine entscheidende Rolle spielen, um diese Begeisterung zu wecken.

Feinde der Begeisterung: Druck

Im Gegensatz dazu führt Druck – äußerer wie innerer, durch eigene starke Bedürfnisse erzeugter, Druck – zu einem Rückgriff auf alte, vorgefertigte Bahnen und bewährte Denk- und Handlungsmuster. Das kann in Krisensituationen sinnvoll sein, denn damit können bekannte Probleme sehr effizient gelöst werden. „Weniger gut ist allerdings, dass es unter solchen Bedingungen kaum gelingt, neue Verknüpfungen herzustellen, also kreative und innovative Lösungen zu finden.“ (Kuhl & Hüther, 2007).         
Bisweilen und abhängig vom Ausmaß des Drucks geht dieser Rückfall auf bewährte Strategien so weit, daß auch Reaktionen aktiviert werden, die schon während der frühen Kindheit gebahnt worden sind. Das Verhalten wird dann einfacher, determinierter und damit auch unfreier. Die Psychologie spricht von Regression. Wenn es besonders eng wird kommt es mitunter zum Rückfall in archaische Notfallreaktionen. „Die sind im Hirnstamm (…) angelegt und führen, wenn sie aktiviert werden, zu Angriff oder Verteidigung, zu panischer Flucht, und zuletzt – wenn gar nichts mehr geht – zu ohnmächtiger Erstarrung (Hüther 2004).“ (ebda)

Die Wiederherstellung von komplexeren verhaltenssteuernden Mustern und der Ermöglichung von subtileren und fragileren und damit auch freieren, also weniger vorherbestimmten Beziehungsmustern – die heute zur Orientierung und zum Handeln in einer komplexer gewordenen Lebenswelt mit komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen dringend erforderlich sind – erfordert ein Absenken des Drucks.

Kreativität wird erst dort möglich, wo es gelingt „völlig ohne Druck und mit absoluter Leichtigkeit“ ein Stück weit über dem Niveau der „bisher erworbenen Lebensbewältigungsstrategien eines Menschen (…)hinaus zu schweben.“ (ebda.)

Erst dann kann man fast spielerisch, wie im Traum, Ideen frei entwickeln und unterschiedlichste Gedanken und Vorstellungen miteinander in ungewohnter, aber sehr kreativer Weise zu etwas Neuem, noch nie Gedachtem verknüpfen.

Feinde der Begeisterung: Erfolg und Routine

Ein zweiter Erzfeind von Lernen und Entwicklung besteht in Erfolg und Routine. Wer immer wieder auf die gleiche Weise denkt, fühlt und handelt, strukturiert sein Gehirn so, daß er/ sie irgendwann nicht mehr denken, fühlen und handeln kann. Routinisiertes Handeln führt zu Verengung und Verarmung. Insofern kann auch Erfolg die Ursache für Verengung und Niedergang sein. Je länger man mit bestimmten Denk- und Verhaltensmustern Erfolg hat, desto mehr reduzieren sich komplexe Verschaltungen im Gehirn zu robusten eindimensionalen Nervenbahnen (´Autobahnen des Gehirns´) und verhindern geradezu das Aufkommen von Begeisterung und damit auch von neuen Ideen oder Handlungsalternativen.     
Aus dem gleichen Grund führt auch der Hang zum Perfektionismus zu einer Unterforderung und Unternutzung der Lern- und Entwicklungspotentiale. „The better something works, the less excited you are.“ Gerade im Zusammenhang mit Erfolg und Perfektionismus spielt daher auch die Fähigkeit zum Entlernen eine besondere Rolle.

Supportive Leadership:  Führen durch ´Einladen´, ´Ermutigen´ und ´Inspirieren´

Führungskräfte und ManagerInnen können in der Bildung der eingangs beschriebenen Begeisterung dann eine entscheidende Rolle speilen, wenn es ihnen gelingt im Rahmen eines „Supportive Leadership“ durch ´Einladen´, ´Ermutigen´ und ´Inspirieren´ solche Aktivitäten und Erfahrungen zu organisieren bzw. zu unterstützen, die von den MitarbeiterInnen als bedeutungsvoll und sinnhaft erlebt werden[3]. Dabei geht es beipielsweise darum:

  • Neue Herausforderungen zu schaffen. Dadurch werden Routinen gebrochen und Gewöhnungseffekten des Gehirns vermieden. Ein Mittel dafür ist die Job Rotation.
  • Wissen im Unternehmen zu vernetzen. Wenn MitarbeiterInnen zB. in abteilungsübergreifenden Teams oder in Großgruppensettings die Möglichkeit haben sich auszutauschen werden damit auch andere Perspektiven und Wahrnehmungen ermöglicht und gleichzeitig entfernte neuronale Netzwerke im Gehirn aktiviert.
  • Eine positive Fehlerkultur zu schaffen. Wenn Fehler bestraft werden, löst das Angst aus. Es kommt zur oben beschriebenen Aktivierung von archaischen Notfallsprogrammen im Gehirn: Angriff, Flucht und Erstarrung sind die Folge. Führungskräfte sollten daher dafür sorgen, dass MitarbeiterInnen möglichst keine Versagensängste spüren.
  • positives Feedback, Lob und Hilfestellung zu geben. Dadurch werden positive Erfahrungen mit entsprechenden Emotionen verknüpft und verschiedene Netzwerke gleichzeitig aktiviert und gekoppelt. Das verstärkt Zugehörigkeitsgefühl wie Leistungsbereitschaft.

Lernen, Entwicklung, Kreativität und damit auch Innovation beruhen in dieser Perspektive auf einem Prozess der auch mit Herausforderung und Anstrengung verbunden ist. Allerdings ganz explizit auf Basis einer positiven, als sinnhaft und bedeutungsvoll erlebten, Motivation und getragen von einer auf Vertrauen – in die Erfüllung der eigenen Grundbedürfnisse – basierenden Grundstimmung. Diese Kontexte von Sinn, Motivation und Vertrauen mit herzustellen, wird im Rahmen des supportive Leadership zum Kerngeschäft von Führung und ihrer Interventionen.

Solche auf Einladung, Ermutigung und Inspiration beruhenden Interventionen sind allerdings eine herausfordernde Angelegenheit und setzen wiederum Führungskräfte voraus, die ihrerseits besondere Fähigkeiten im Bereich der emotionalen und sozialen Intelligenz erworben haben und in der Lage sind, authentisch – über kurzfristige Profit- und Effizienzziele hinaus -- nachhaltig zu handeln. Erforderlich dafür ist ein entwickeltes „Selbst“.

Selbstführung -- Führungskräfte mit einem entwickelten Selbst

Um als Führungskraft supportive Leadership leben und umsetzen zu können, bedarf es der Entwicklung und Aktivierung eines Systems der Selbststeuerung, das von Kuhl & Hüther (2007) als „das Selbst“  bezeichnet wird und das die anderen 3 bekannteren Formen der Selbststeuerung ergänzen und entlasten kann. Dir Formen der Selbststeuerung stellen sich nach Kuhl & Hüther (2007) daher folgendermaßen dar:

  • Routinen/ Gewohnheiten (eher von Außen vorgegeben)
  • Anreiz durch ganz bestimmte Objekte (eher von Außen vorgegeben)
  • Kontrolle durch das auf einzelne Zwecke fokussierende, planende Ich
  • Das Selbst als System, „das einen Überblick über eine große Zahl von Lebenserfahrungen simultan zur Verfügung stellt („Selbstmodell“), so dass die „selbst-bestimmte“ Handlungsbahnung eine große Zahl von Bedürfnissen, Gefühlen, Werten (eigenen und fremden), Handlungsmöglichkeiten, antizipierten Folgen usw. berücksichtigt.“ (Kuhl & Hüther, 2007).

Das analytische Bewusstsein, das sich ja immer nur einzelne Dinge bewusst machen kann, könnte es nicht leisten, so viele entscheidungsrelevante Gesichtspunkte gleichzeitig zu berücksichtigen. Das Selbst liefert nicht nur kognitive („erkennende“) Leistungen. Es ist, auch direkt mit Körperwahrnehmungen und Emotionen vernetzt. Dadurch werden Informationen, wie es um die die Bilanz der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse aussieht, zugänglich und einbezogen.

„Da ein gut entwickeltes Selbst einen unbewussten Überblick über alle relevanten Lebenserfahrungen und alle eigenen und fremden Bedürfnisse und Werte bereitstellt, ist es immer dann besonders wichtig, wenn es um komplexe Entscheidungen geht. Ein umsichtiger Umgang mit komplexen Systemen, z. B. mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der Umwelt setzt demnach die optimale Entwicklung des Selbst voraus.“ (Kuhl & Hüther, im Erscheinen)

Das Selbst entwickelt sich durch ´in Beziehung treten´ in der Interaktion mit Bezugspersonen in der die beiden oben genannten menschlichen Grundbedürfnisse Berücksichtigung finden. Es bleibt aktiv solange die Person sich in einer liebevollen Beziehung verstanden fühlt (weil Verstehen der ganzen Person eine seiner Hauptfunktionen ist)“. (ebda).

Als Ergebnis des Lebens, Umsetzens und Gelingens von supportive Leadership in unseren Unternehmen und Organisationen könnte sich – folgt man Hüther -- sowohl auf organisationaler Ebene als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine Kultur der Potentialentfaltung als neues Leadership-Mindset und Gegenbild zur rezenten Ressourcennutzungsgesellschaft entwickeln.



[1] Folgende Ausführungen beruhen weitgehend auf Hüther (2010, 2011) und Lenglachner & Hüther (2013)

[2] Wir finden also auch hier – analog zum lange währenden und noch immer wirksamen Bild von Organisationen (siehe Blogbeitrag 4) die Maschinenmetapher als Grundlage unserer Vorstellung von Wirkungszusammenhängen.

[3] Solche sozialen Erfahrungen beinhalten immer ein WAS und ein WIE werden im Präfrontallappen des Gehirns als Verknüpfungen abgespeichert, die wiederum mit anderen Erfahrungen kognitiv und emotional verknüpft sind und setzen sich zu den dort bereits eingelagerten – immer kognitiv und emotional belegten -- Mindsets in Beziehung und bestärken, irritieren oder verändern diese.

Distributed Leadership oder das Ende der einsamen Helden

Leadership im Umbruch (6)

Ich habe in den letzten Blogbeiträgen versucht, die Grundlagen von Führung vor dem Hintergrund einer systemischen Perspektive auf Organisationen und mit Blick auf das turbulente und komplexe Umfeld, in dem Organisationen gegenwärtig agieren müssen, heraus zu arbeiten.

In den nächsten drei Beiträgen werde ich spezielle Herausforderungen aufgreifen, welche für Führung darüber in speziellen Kontexten entstehen und gleichzeitig auch Orientierung bieten, in welche Richtung Führung sich künftig entwickeln kann.

Im Organisationskontext ist dies zunächst die Tendenz zu geteilter Führung. Distributed Leadership greift Organisationsveränderungen wie Verflachung der Hierarchien, gestiegene Flexibilitätserfordernisse und das Auflösen organisationaler Grenzen auf und begreift Führung als emergente Fähigkeit einer Gruppe oder eines Netzwerks von miteinander interagierenden Personen mit geteilten und wechselnden Führungsfunktionen.

Im Feld der Hirnforschung und der Neurobiologie sind das neue Erkenntnisse die unter dem Label „Neuroleadership“ verdeutlichen, dass Führung nur dann nachhaltig erfolgreich ist, wenn es ihr gelingt, die Emotionen und Bedürfnissen der Mitarbeitenden zu erreichen und Motivation und Sinn zu erzeugen; vorwiegend durch eine Haltung des Einladens, Ermutigens und Inspirierens.

Im Kontext der kritischen Managementforschung werden die gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenerscheinungen mit einer Krise des Managements und der Führung in Verbindung gebracht. Der Diskurs rund um Responsible Leadership fokussiert auf wertorientierte und normative Herausforderungen von Führung im Kontext von vielfältigen Stakeholder-Interessen. Die Organisationen und ihre Umwelten (MitarbeiterInnen, Wissen, Märkte, Shareholder, AkteurInnen der Zivilgesellschaft, KundInnen) werden als Überlebenseinheit gedacht.  Dies erfordert eine aktive Auseinandersetzung der Unternehmen mit ihren Umwelten und in der Folge ein vitales Miteinander als Überlebens- und erfolgssichernde Maßnahme.

In diesem Beitrag steht vorerst Distributed Leadership im Brennpunkt.

Veränderte Führungsanforderungen

Im neuen turbulenten und komplexen Wirtschaftskontext mit den Tendenzen zur Auflösung von Hierarchien, zu Netzwerken und zum Auflösen von organisationalen Grenzen müssen Organisationen auch Entscheidungs- wie operative Führungskompetenzen mehr an die Grenzzonen der Organisation verlagern: Also zu jenen Kräften, die tatsächlich mit Kunden und anderen Stakeholdern in Kontakt sind.

Für Spitzenführungskräfte bedeutet das eine massive Herausforderung: Zum einen Teil gilt es hier am eigenen Selbstverständnis zu arbeiten, denn die Zeiten des Heldentums, also einzelner erfolgreicher und übermächtig erscheinender Unternehmenskapitäne sind damit passé. Zum anderen Teil gilt es für das Top-Management insbesondere auch zu lernen, die operative Kontrolle loszulassen, seine Führungsrolle auf die strategischen Agenden hin zu fokussieren und auch tatsächlich wahrzunehmen. Und es wird zu ihrer Kernaufgabe, die Organisationsarchitektur so zu (mit-)zugestalten, dass neue Notwendigkeiten wie Entrepreneurship und bereichs- und organisationsübergreifende Kooperation in die Organisationsstruktur und –kultur eingewoben werden (vgl. Deiser 2010).

Auch das mittlere Management muss sich verändern: Es wird unternehmerischer agieren müssen, eigene Entscheidungen zu treffen haben und immer öfter auch im Geist einer verantwortlich gebundenen Teilautonomie in Vorlage gehen müssen.

Und nicht zuletzt müssen auch die MitarbeiterInnen ihren Teil an Eigeninitiative und unternehmerischem Handeln übernehmen, etwa im dienstleistungsorientierten Umgang mit Beschwerden von KundInnen und im Qualitätsmanagement.

Es braucht ein Mehr an Führung und Management in der gesamten Organisation

Die damit entstehenden neuen Organisationsformen werden zwar in aller Regel durch flachere Hierarchien gekennzeichnet sein, sie brauchen jedoch gleichzeitig ein Mehr an Management und Führung. Immer mehr Positionen/ Funktionen/ Rollen werden durch Anforderungen gekennzeichnet sein, wie Strategien in konkrete Prozesse übersetzen zu müssen, neue Arbeitsstrukturen zu erfinden oder temporär Teams leiten zu müssen.

Malik (2006, S.64ff.) stellte in diesem Zusammenhang schon vor Jahren fest, dass insbesondere in den modernen Wissens- und Dienstleistungssektoren (Computer, Informatik, Engineering, Bio-Branche, Beratung, Finanzdienstleistungen, Wissenschaft, Kunst und Kultur) der Anteil und auch Bedarf an Führungskräften mittlerweile bei 20 bis 25 Prozent liegt und damit in etwa vier bis fünf Mal so hoch ist, wie in der klassischen Industrie. Und prognostizierte für die Zukunft:

„Es wird viel mehr De-facto-Manager geben, wenn auch unter bisher noch gar nicht bekannten und vermutlich sehr bunten Bezeichnungen, und ihre Aufgaben werden schwieriger sein als heute.“ (Malik 2006, S.67)

Es dürfte dabei aber – wie folgende Schlussfolgerung aus einem großen Organisationsentwicklungsprozess in einer großen Klinik zeigt – nicht bloß um Führung als quantitative Komponente gehen. Vielmehr geht es darum, daß Kompetenzen von Management und Leadership zunehmend zum fixen und notwendigen Qualitätsbestandteil von immer mehr Jobs, Funktionen und Rollen in Unternehmen werden. Kompetenzen und Erfordernisse von Leadership und Führung werden tendenziell zum Bestandteil jedes Jobprofils.

„Um eine Excellenz in der Behandlung zu erreichen, braucht es aber einen zusätzlichen Baustein: Leadership. Leadership ist aber nicht als reine Managementaufgabe zu verstehen, sondern als Identifikation jedes Einzelnen mit dem Behandlungsprozess. Leadership beinhaltet die Übernahme der Verantwortung für die eigenen Handlungen im Kontext des gesamten Prozesses und die fachliche Kompetenz, Entscheidungen zu treffen, Zuständigkeiten einzuschätzen sowie die kommunikative Kompetenz, Entscheidungen dem Patienten oder Mitgliedern der therapeutischen Teams mitzuteilen.“ (Knoth et al. 2012, S.66)

Distributed Leadership und Konsequenzen für das „Leadership Development“

In der Management- und Führungsforschung wird in diesem Zusammenhang seit einigen Jahren von ´distributed leadership´ gesprochen (Bolden 2007; Bennet et al. 2003; Spillane et al. 2004).

Vor diesem Hintergrund wird Leadership weniger im Kontext der Funktionen, Rollen, Aktionen oder auch des Einflusses einzelner Führungspersonen gesehen. Sondern eher als „recognised as integral to the overall direction and functioning of the organisation.“ Der Blick geht weg von einzelnen Abteilungen und Organisationseinheiten hin zum Ganzen und zum Verstehen der Zusammenhänge. Der Fokus dieser neuen Perspektive liegt auf den im organisationalen Kontext geteilten Funktionen und Aktivitäten von Leadership und nicht mehr auf den Charakterzügen und Wesensmerkmalen von Führungspersonen. Die Begründung der Tendenz zum ´distributed leadership´ knüpft an drei Prämissen/ Voraussetzungen an:

  • Leadership als eine emergente Fähigkeit einer Gruppe oder eines Netzwerks von miteinander interagierenden Personen. Das Zusammenspiel von Rollen und Funktionen ist dabei ein wechselseitiges. Es ändert sich fließend und je nach Erfordernissen die durch ein Projekt, eine Aufgabe oder Ziel gestellt werden (zB. abwechselnde Projektleitung und Mitarbeit)
  • Offenheit hinsichtlich der Grenzen von Leadership, das sowohl in der Organisation, als auch zunehmend über die Grenzen der Organisation hinaus wirksam sein muss (denn gerade dort wird Steuerung im Sinne der Kontext-Ko-Gestaltung erforderlich)
  • Und drittens sind die vielfältigen und komplexen Kompetenzen und Wissensformen, welche für die neuen Produktions- und Dienstleistungsprozesse erforderlich sind  „distributed across the many, not the few.“

Es geht demnach weniger um ´Leader Development“ -- als klassische Investition in Humankapital um interpersonelle und individuelle Kompetenzen auserwählter ´High Potentials´ zu entwickeln -- als tatsächlich vielmehr um „Leadership Development“. In diesem Verständnis spielt die Bildung individueller Kompetenzen zwar auch eine Rolle, ebenso wichtig – und bislang ausgeblendet -- sind allerdings Maßnahmen zur Bildung von „social capital to develop interpersonal networks and cooperation within organisations and other social systems.“ (Bolden 2007). Leadership verlangt hier in die Prozesse und Strukturen der Organisation eingewoben zu werden. Es muss integriert sein, in Prozesse der Wissensvermittung, der Innovation und der strategischen Auseinandersetzung.

„Whilst the majority of investment continues to be for individuals in formal leadership roles, a distributed perspective would argue for the development of leadership capacity throughout the organisation.“ (Bolden 2007)

Leadership als Capacity der gesamten Organisation wirft Fragen auf nach der Verankerung von Werten, strategischen Ausrichtungen und gemeinsamen Zielen. Denn eine der Schlüsselfragen lautet ja: Wie kommt es in der geteilten Führung zu gemeinsamer Ausrichtung, Koordination und Wirkung von Führung? Nut wenn es gelingt mittels eines möglichst gemeinsam entwickelten aber jedenfalls getragenen Rahmens aus Werten, Strategien und Zielen den nunmehr vielen Führenden Orientierung in ihrem Führungshandeln zu geben, nur dann kann geteilte Führung eine gemeinsame Kraft und Ausrichtung finden und wirksam sein.

Wovon Führungskräfte ausgehen können, wenn Sie wirksam führen wollen

Leadership im Umbruch (5)

Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit für eine Gruppe von etwa 20 UnternehmerInnen und Führungskräften eine „Learning Journey“ zum Thema Beschleunigung und Entschleunigung in Organisationen zu gestalten. Ziel war ein Austausch und ein gemeinsames Lernen zum Umgang mit Geschwindigkeit im eigenen Führungshandeln und in der eigenen Organisation. Gleichzeitig sollten auch Potenziale der Entschleunigung und des sich Sammelns gefunden werden. Erlebten doch alle TeilnehmerInnen zunehmenden Druck, Stress, Belastung bzw. ein Gefühl des „Laufens in einem immer schnelleren Hamsterrad“, wie es ein Geschäftsführer eines Planungsbüros formulierte. Die erste Station führte uns für zwei Tage zur Rennstrecke an den Red-Bull Ring in der Obersteiermark, den zweiten Teil der Reise verbrachte die Gruppe dann quasi als Konterpart im Stift Admont.

Ein Programmpunkt an der Rennstrecke bestand darin, dass jede/r TeilnehmerIn eine Runde mit möglichst hoher Geschwindigkeit über den Ring fahren sollte, und zwar als BeifahrerIn in einem 2-sitzigen Formel-3 Auto und chauffiert von einem professionellen Rennfahrer. Die Reflexion dieser Fahrt brachte eine Menge spannender Punkte zu Themen von Vertrauen, Kontrolle, Beobachtungsvermögen etc. an die Oberfläche. Besonders interessant scheint mir folgende Erfahrung eines Teilnehmers zu seiner Wahrnehmung des Meisterns von Kurven zu sein:

„Immer wenn wir in die Kurve hinein gefahren sind, da hat man gespürt, welch labiles System das ist, das Auto bricht aus, momentan glaubst du noch, jetzt passiert der Unfall, aber dann, der Fahrer hat sofort nachgesteuert, leicht gegengelenkt....dann gleich wieder, wieder sofort vom Fahrer reagiert, insgesamt drei, vier, fünf Mal in jeder Kurve, oder noch öfter, es ist ja alles so schnell gegangen.....das hat mich besonders beeindruckt, am Anfang habe ich mich noch gefürchtet, aber dann habe ich gemerkt, dass dieses immer wieder instabil werden und nachsteuern Teil seines Spiels ist.“

Dies wurde auch von den anderen BeifahrerInnen bestätigt. Das Steuern durch die Kurven ist ein Prozess ständiger Rückkoppelungsschleifen zwischen dem Fahrer und dem Auto: Der Fahrer beeinflusst dabei was das Auto macht, aber das Auto beeinflusst auch, was der Fahrer macht. Nur indem es dem Fahrer immer wieder gut gelingt, die Eigendynamik des Autos gut wahrzunehmen und dementsprechend nachzusteuern und dann auch gleich wieder zu beobachten, wohin dieser Steuerungsversuch führt, um dann wieder nachzusteuern etc...nur so kann die Fahrt durch die Kurve gelingen. Lineare Steuerung in dem Sinn „Ich schätze einmal ab wie ich die Kurve zu fahren habe und zieh das dann durch“ wäre hier völlig fehl am Platz.

Wir nähern uns mit dieser Analogie der Frage, wie Steuerung in Systemen möglich ist, die keine trivialen Maschinen darstellen? Denn wenn wir – wie im letzten Beitrag nahe gelegt – Organisationen aus einer systemischen Perspektive betrachten und Führungsprozesse daher ganz wesentlich an Aktivitäten von Selbstreflexion, gemeinsamen Lagebesprechungen, am Organisieren von Feedback und am Schaffen von adäquaten Räumen der Selbstthematisierung und Selbstorganisation anknüpfen, dann rückt nun das konkrete Führungshandeln ins Zentrum:

Wie komme ich als Führender mit den Personen, Gruppen, Abteilungen, Netzwerkpartnern etc., auf die ich tagtäglich in meinem Führungshandeln angewiesen und verwiesen bin, überhaupt in eine produktive Kommunikation? Was sollte mir dabei über die besondere Form des Führungshandelns als Interventionsprozess bewusst sein, damit mein Führungshandeln überhaupt Erfolgschancen hat?

Wenn das Modell der trivialen Maschine – wie in den letzten Beiträgen angesprochen – seine Gültigkeit immer mehr verliert, wovon können wir dann ausgehen? Ich möchte zur Klärung dieser Frage zunächst den in Blog 4 vorgenommenen systemischen Blick auf Organisationen noch erweitern und zuspitzen und auf das Differenzmodell eingehen, das Heinz von Förster seinem Bild der trivialen Maschine gegenübergestellt hat: Das Modell der nicht-trivialen Maschine.

Systeme als nicht-triviale Maschinen oder der zerstörte Traum einer berechenbaren Welt

„Gegeben ist ein System, eine Maschine, ein lebendes Wesen. Und das analytische Problem lautet: Wie funktioniert dieses System, diese Maschine, dieses lebende Wesen? Und kann man in einer endlichen Folge von Experimenten die operativen Eigenschaften bestimmen, die sich an der Beziehung von Reiz und Reaktion, Ursache und Wirkung ablesen lassen? Läßt sich die Transformationsregel herausbekommen? Im Fall der nichttrivialen Maschinen ist das analytische Problem, wie schon gesagt, prinzipiell unlösbar. Ihre Transformationsregeln hängen von Geschichte und Vergangenheit ab; sie sind vollständig unberechenbar – und das macht sie so schrecklich unbeliebt: Sie zerstören unseren Traum von einer berechenbaren Welt.“ (Heinz von Förster[1])

Nicht-triviale Systeme, dazu gehören aus der Perspektive der Systemtheorie sowohl Individuen als psychische Systeme wie auch soziale Systeme (zB.: Gruppen, Familien, Organisationen) zeichnen sich dadurch aus, dass es einen internen Kommunikations- und Verarbeitungsprozess gibt. Sie reagieren auf den Input UND den eigenen Zustand. Nach jedem Arbeitsgang kann der innere Systemzustand daher auch sein Programm ändern, sofern die Systemstruktur eben „lernt“. Das heißt, nicht-triviale Systeme sind geschichtsabhängig wie auch lern- und entwicklungsfähig, sie sind – wie schon in Blog 4 herausgearbeitet – autopoietische Systeme, die sich selbst und ihre Elemente aus sich heraus (re-)produzieren.

Die Annahme einer kausalen Ursache-Wirkungskette ist hier unhaltbar, d.h. es ist für einen externen Beobachter grundsätzlich undurchschaubar und unberechenbar wie die nicht-triviale Maschine auf einen bestimmten Input reagiert, denn die inneren Verarbeitungsprozesse weisen Eigendynamiken, Eigenlogiken und Eigensinn auf und entziehen sich durch interne Prozesse der Selbstorganisation einer linearen Steuerung von Außen[2].

Es kommt zu operativer Schließung als Fähigkeit eines Systems in einer der Umwelt gegenüber abgeschlossenen und nur auf sich selbst bezogenen Weise zu operieren. In Organisationen sind es Kommunikationsprozesse und Entscheidungen, die für Abgrenzungsprozesse zwischen Organisationen und ihren Umwelten sorgen. Die Akteure eines Systems sprechen miteinander, verabreden sich, machen gemeinsame Pläne und konstituieren in dieser Interaktion gemeinsam nach und nach ein organisatorisch geschlossenes, ein autonomes System. Der Output des einen Akteurs ist gleichzeitig der Input für den anderen und umgekehrt. es entsteht eine zirkuläre Fläche und eine zirkuläre Kausalstruktur. Indem die einzelnen Elemente innerhalb des Systems aufeinander reagieren, aufeinander Bezug nehmen, einander stimulieren und respondieren kann sich mit der Zeit stabiles Verhalten bilden. Es können Muster entstehen.

Gleichzeitig zum Prozess der operativen Schließung sind soziale Systeme jedoch auch offen für Energie- und Materialaustausch mit ihren Umwelten. Das heißt, die Organisation kann sich  selektiv gegenüber ihren Umwelten öffnen und Bezüge bzw. Koppelungen herstellen. Dabei werden in der Interaktion mit den Umwelten jene Kommunikationen, Handlungen, Erwartungen und Entscheidungen als relevant betrachtet und im System bearbeitet, welche sich für die spezifischen, kognitiven, semantischen und sozialen Strukturen, die im inneren des Systems im Zusammenspiel der Teilsysteme ausgebildet wurden, als anschlussfähig erweisen (Willke 1996).

Nicht-triviale Systeme zeichnen sich durch eine nicht zu überschauende potenzielle Komplexität aus. Steuerungsversuche die darauf basieren, im Sinne eines umfassenden Planungs- und Kontrollprozesses erst alle Informationen darüber einzuholen, wie sich die einzelnen Systemelemente verhalten und dann durch entsprechende Anordnungen zu handeln, sind daher schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt. Erstens ist die Komplexität zu groß, zweitens sind die Informationen durch die permanente Dynamik sofort wieder veraltet.

Ein neues Leadership Mindset: Dritte Schlussfolgerungen[3]

Wenn ich im Rahmen von Beratungsprozessen oder Führungstrainings dieses Modell kurz vorstelle kommt meist von zumindest einem, oft auch von mehreren TeilnehmerInnen manchmal resigniert manchmal auch leicht verzweifelt die Frage: „Und wie soll ich in einer solchen Gemengelage denn überhaut steuern können, wie kann ich unter solchen Voraussetzungen meiner Führungsverantwortung nachkommen, wo doch eh jeder Steuerungsversuch vom System abgewehrt wird?“

Dazu könnten folgende Schlussfolgerungen und Anregungen vielleicht hilfreich sein:

Als Führender sind Sie Teil des zu führenden Systems

Betrachten Sie sich als Führende/r Steuernde/r selbst als Teil des zu steuernden Systems! In dem Augenblick, in dem Sie einen Impuls zur Systemveränderung setzten stehen Sie nicht mehr Außen, sondern ´mitten drinnen´. Ihr Handeln in Bezug auf das System ist eine Reaktion auf früheres Handeln und vorangegangene Zustände des Systems und wird im Sinn der Zirkularität auch wieder auf Sie zurückwirken.

Auch wenn Sie nur beobachten hat das Konsequenzen im System

„Man kann in eine menschliche Sozialstruktur ja nicht hineinschauen wie in ein Aquarium und annehmen, dass sich dadurch nichts verändert.“ (Schwarz, 2005, S.44) Machen Sie sich bewusst, dass auch Beobachtung (zB. Kontrolle) eine Form von Handeln ist, das vom System beobachtet wird und auf das reagiert wird.

Das primäre Ziel einer Organisation ist ihr eigenes Überleben

Hat eine Organisation – aber auch ein relevantes Subsystem einer Organisation – erst einmal das Licht der Welt erblickt, so ist als autopoietisches System ihr primäres Ziel von nun an ihr eigenes Überleben. Ihr mögen von verschiedenen Stakeholdern andere Ziele zugeschrieben werden oder angedacht sein, doch bevor sich eine Organisation bewusster Entscheidungen über Ziele und Zwecke verschreiben kann, aber diese sind dann Mittel zum Zweck der Primärfunktion, des eigenen Überlebens. Machen Sie sich diese Konsequenz für ihr Führungshandeln nutzbar.

Bescheidenheit: Gehen Sie davon aus, dass die Dinge anders kommen, als Sie erwarten

Wenn Sie das System steuern oder verändern wollen und eine dazu scheinbar passende Handlung setzen, gehen Sie nie davon aus, dass genau das passiert, was Sie sich erwartet haben. Sie enttäuschen sich dadurch zu oft selbst, das stärkt ihre Handlungsfähigkeit nicht. Sie können zwar ihren Steuerungsimpuls wählen, aber der gesamte Prozess der Informationsverarbeitung passiert innerhalb des Systems, in das sie eingreifen wollen. Als Führungskraft können Sie daher nicht einfach eine Information an ein Zielsystem übertragen, denn die Information wird erst systemintern konstruiert, d.h. die Botschaft die Sie zu senden versuchen wird vom Zielsystem erst auf eine ganz bestimmte Art und Weise wahrgenommen und in der Folge als Basis eigener Interaktionen weiter verwendet.

Führung ist dennoch möglich

Aus der Innenperspektive des Systems entsteht daher tatsächlich der Eindruck, dass das System autonom ist. Interne Prozesse schließen permanent aneinander an und garantieren damit die Systemreproduktion. Das System erscheint aus dieser tatsächlich unsteuerbar und Führung wirkungslos. Lassen Sie sich davon nicht entmutigen!

Nutzen Sie die „windows of opportunity“

Versuchen Sie den Fokus darauf zu legen, dass Individuen und soziale Systeme in ihrer operativen Geschlossenheit auch eine gewisse und selektive Offenheit gegenüber ihren Umwelten aufweisen. Hier öffnet sich das Tor zu Führung und Steuerung.

Versuchen Sie jene Gelegenheiten, Zeiten, Orte und Räume wahrzunehmen und zu nutzen, in welchen das System sich gegenüber ihrem Steuerungsanliegen als offen erweist und bringen sie dieses so ein, dass es das System ausreichend irritiert um wahrgenommen und bearbeitet zu werden, aber auch so dosiert, dass es nicht als Zumutung empfunden wird und daher abgestoßen. Ihr Anliegen muss sich im System als anschlussfähig erweisen. Eine Balance zwischen ausreichender Irritation und dennoch ausreichender Zumutbarkeit kennzeichnet die hohe Kunst der Führung.

Beobachten Sie Rückkoppelungen und achten Sie auf Muster und Abweichungen

Es zeigen sich schließlich doch Zusammenhänge zwischen Steuerungsimpulsen durch Steuernde und den Systemreaktionen (zB. Kommunikationen in einer Abteilung, Handlungen einer Teamleiterin). Diese Systemreaktionen können aber nur beobachtet und erschlossen werden, nicht aber vorhergesagt und berechnet.

Führen heißt daher, den entstehenden Rückkoppelungsprozess aus Steuerungsimpulsen und Systemreaktionen gut zu beobachten und Rückschlüsse auf die inneren Strukturen und Prozesse des Systems zu ziehen.     
Manchmal werden Muster sichtbar und es wird möglich, Voraussagen oder zumindest Annahmen zu treffen, wie sich das System bei einem bestimmten Input verhalten wird (ohne allerdings genau erklären zu können was passiert, von einem analytischen Standpunkt aus bleibt das unerklärbar).          
Auf der anderen Seite kann jede Abweichung vom erwarteten Ergebnis immer als Information über das Verhalten des Systems genutzt werden.

Kommunizieren Sie

Das Mittel der Wahl um solche Beobachtungs- und Erschließungsprozesse zu unterstützen, voran zu treiben und im Ergebnis zu präzisieren ist Kommunikation. Bleiben Sie im Gespräch, fragen Sie nach dem Hintergrund von Abweichungen und kommunizieren Sie vor allem Ihre Erwartungen.
Versuchen Sie, wo immer das möglich ist, die ihrem Handeln zu Grunde liegenden Motive und Rahmenbedingungen in Form eines ´Beipackzettels´ mit zu kommunizieren. Warum haben Sie entschieden, wie sie entschieden haben? Können ihre MitarbeiterInnen ihre Handlungen und Entscheidungen auch nachvollziehen? Ein solcher ´Beipackzettel´ ist wahrscheinlich gerade immer dann hilfreich, wenn Ihnen selbst Ihre Sache als ´völlig logisch´ erscheint, und Sie daher gar nicht auf die Idee kommen, dass es da vielleicht auch noch eine weitere Erklärung brauchen könnte (sie auch Blog 4: Unterschied zwischen Absicht und Wirkung).

Legen Sie ihr Führungshandeln und ihre Steuerungsimpulse als Interventionen an

Ein realitätsgerechteres Verständnis von Führung knüpft an der oben heraus gearbeiteten Selbstorganisation und Komplexität der Organisationsgeschehnisse an und konzipiert Führungshandeln als Abfolge von Interventionen.

Intervention (vgl. Willke 1987, S.333) ist zu verstehen als zielgerichtete Kommunikation zwischen psychischen und/ oder sozialen Systemen. Dabei wird zwar eine bestimmte Wirkung beim Kommunikationspartner/ im Zielsystem beabsichtigt, gleichzeitig wird aber dessen Autonomie respektiert und in das Kalkül gezogen, dass das Ergebnis ungewiss ist. „Systemische Intervention könnte eine zielgerichtete Kommunikation genannt werden, in der man sich der prekären Ausgangslage des Versuchs der wirkungsvollen Beeinflussung eines autonomen sozialen Systems bewusst ist.“ (Königswieser & Exner 2006, S.17).

Das klassische lineare Verständnis von Führungsintervention (Datenanalyse, Planung, Anweisung, Erwartung dass das Ergebnis so eintritt) wird so zu einem kreishaften und zirkulären. Die Planung von Interventionen ist auch hier notwendig, sie geht aber nicht mit der Erwartung einer linearen Wirkungserzielung einher. Der Fokus liegt auf dem gesamten schleifenförmigen Interventionsprozess der von der intervenierenden Führungskraft zu managen ist und in einem systemischen Verständnis grundsätzlich davon ausgeht, dass Erkenntnis wie Veränderung nie definitiv ist, sondern etwas de facto Unabgeschlossenes und von der Einschätzung des intervenierenden Beobachters abhängiges.

Innerhalb des Interventionsprozesses können daher mehrere „Nachjustierungen“ in Form eines neuerlichen Durchlaufens dieser Schleife erforderlich sein. Zwischen der intervenierenden Führungskraft und den Systemreaktionen entsteht ein Regelkreis oder Feedbackprozess, auf dessen Rahmen und Gestaltung die Führungskraft prozesssteuernd wirkt. Hier zeigt sich, dass das Ergebnis einer Intervention zwar wichtig ist, mindestens ebenso sehr aber auch der Prozess. Und spätestens hier offenbar sich auch die Analogie der einleitenden Geschichte des Befahrens der Kurven am A1 Ring zum Thema wirksamer Führung.

Die Führungskraft als Gärtner

Für das Agieren der Führungskraft im Rahmen nicht-trivialer Systeme führen Wimmer & Schumacher (2009, S.174f.) – unter Bezugnahme auf Willke (1995) die Tätigkeit eines Gärtners als adäquate Metapher ein: „Man kann Rahmenbedingungen schaffen, die im Sinne einer indirekten Steuerung Möglichkeiten bieten, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich das Unternehmen in die gewünschte Richtung entwickelt.“

Auf dieses Verständnis gründend tun Führungskräfte in Organisationen nach Meissner/ Wolf/ Wimmer (2009, S.28) vor allem Folgendes:

  • Sie versorgen die Organisation in Hinblick auf ihre jeweils relevanten Umwelten mit Unterscheidungen und gewinnen daraus die entscheidenden Entwicklungsimpulse für ihren jeweiligen Verantwortungsbereich
  • Sie leisten horizontale und vertikale Verknüpfung von Systembestandteilen, im Sinne einer Koordination durch Selbstbindung der beteiligten Systeme
  • Sie betreiben organisationale Sinnstiftung durch das formulieren und verbreiten von sinnvollen Theorien, Erklärungen, Legitimiationen
  • Sie geben den Organisationsmitgliedern Orientierung, denn diese haben die Möglichkeit der Zurechnung von Entscheidungen (Personalisierung).

Eine zentrale Aufgabe der Führungskraft besteht insbesondere darin, als Schnittstelle zu den relevanten Umwelten zu fungieren, um die Organisation, „mit den notwendigen Irritationen und Anstößen aus der Umwelt bzw. von den Kunden zu bzw. von den Märkten zu versorgen.“ (Wimmer und Schumacher 2009, S.175).


[1] Zit in: Foerster, H.v. & Pörksen, B. (2003).  Die gesamte in diesem Beitrag im Text angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.

[2] Simon (2009, S.54f.) spricht in diesem Zusammenhang von der Strukturdeterminiertheit autopoietischer Systeme und gibt folgendes Beispiel: „Man schubst einen Menschen und er wird – bestimmt durch seine aktuellen Strukturen und Zustände – entweder das Gleichgewicht verlieren oder umfallen, oder er wird gegensteuern, den Stoß ausbalancieren, zurückschlagen, seinen Peiniger küsse, was immer.....Der ´Schubser die von Außen einwirkende Kraft, löst eine durch innere Abläufe bestimmte, für den Beobachter nicht beobachtbare und nicht vorhersehbare Reaktion aus. Nicht einmal das Opfer dieses ´Geschubstwerdens´ kann als Selbstbeobachter sicher vorhersagen, ob es umfallen oder das Gleichgewicht wiedergewinnen wird, da auch ihm die sein Verhalten bestimmenden Prozesse nicht durchschaubar sind. Die Interaktion zwischen demjenigen, der schubst, und demjenigen, der geschubst wird, ist keine geradlinig-kausale Beziehung im klassischen Sinn, da der Stoß zwar der Auslöser der Reaktion ist, sie aber nicht eindeutig festlegt.“

[3]  Diese Schlussfolgerungen und Anregungen sind auch in Ergänzung und Vertiefung zu sehen zu jenen „Ersten und zweiten Schlussfolgerungen“ die in Blog 5 und Blog 6 anknüpfend an eine systemische Betrachtungsweise von Organisationen und ihren Paradoxien entwickelt wurden.

....und dann auch noch Nichts als Paradoxien

Leadership im Umbruch (4)

ZEIT: Ist Deutschland seiner Größe wegen gewachsen?[1]

Fischer: Als Außenminister kam ich eines Tages zu meiner Freundin Madeleine Albright und habe gejammert: ´Es ist furchtbar. Was wir tun ist falsch. Engagieren wir uns, werden wir kritisiert. Engagieren wir uns nicht, werden wir auch kritisiert.´   
Da brach sie in schallendes Gelächter aus und sagte: "Ach, Joschka, das ist der Widerspruch von Führung. Amerika erlebt das täglich." Recht hat sie. Wir müssen lernen mit diesen Widersprüchen umzugehen.“

Vor dem Hintergrund des im letzten Beitrag (Blogbeitrag 5) entwickelten Organisationsverständnisses sind Aufgabe und Prozess von Führung offenbar durch eine grundlegende Paradoxie gekennzeichnet: Einerseits geht es darum, die Organisation mit Führungsinterventionen versorgen zu müssen, welche zu planbaren, berechenbaren und leistungsfähigen Prozessen führen und den Prozess des Organisierens erst ermöglichen und sicheren.        
Gleichzeitig gilt es aber auch, solche Interventionen zu setzen und Prozesse anzustoßen, welche Irritation, Veränderung und Dynamik auslösen und gerade damit verhindern, dass die Organisation in Routine und Stabilität erstarrt bzw. erst dadurch ein nachhaltiges Überleben der Organisation ermöglichen.

Paradoxie 1: Steuerung über die Zufuhr von Stabilität UND Irritation

Mehr noch als die beiden Mammutaufgaben an sich – Interventionen zum Herstellen von Stabilität einerseits und zur Förderung von Wandel andererseits – ist es die Gleichzeitigkeit, Beidhändigkeit und ständige Parallelität dieser scheinbar gegenläufigen Erfordernisse, welche die Aufgabe von Führung heute so enorm schwierig und so herausfordernd macht. Stabilität muss zunächst hergestellt werden, um dann immer wieder irritiert zu werden. Das ist ein bißchen wie: Dem Sysyphos zuerst auf den Berg zu helfen und ihn kurz vor dem Gipfel so zu irritieren, dass er den Felsblock doch wieder runterrollen lässt. Führungskräfte müssen ständig diese Paradoxie von stabilisieren und irritieren bearbeiten, bewältigen und in Balance halten und Entscheidungen treffen, welche Dinge zu stabilisieren sind bzw. welche zu verändern sind.

Was braucht das System gerade, um seine Aufgaben nachhaltig gut erfüllen zu können? Wo steht das System diesbezüglich gerade? Was muss sich verändern und was muss bleiben, damit Zukunft wahrscheinlich wird?

Führung aus dieser Perspektive erfolgt durch prozessorientierte Steuerung über Zufuhr und Irritation von Sicherheit. Diese Einschätzung vorzunehmen ist für die Führungskraft ebenso schwierig wie folgenreich: Interventionen in Richtung zu viel an Sicherheit als auch in Richtung eines zu viel an Irritation können schwerwiegende Folgen haben: für die Zukunftsfähigkeit von organisationalen Prozessen und Strukturen und für die Emotionen der beteiligten MitarbeiterInnen und Stakeholder.

Paradoxie 2: Ausrichtung der Organisation auf eine unbekannte Zukunft

Vertrackt wird die Sache überhaupt, wenn man sich vor Augen hält, dass der Entscheidungshorizont für die Bearbeitung dieser Paradoxie die ungewisse Zukunft ist. Organisationen müssen erfolgreich auf die Zukunft hin ausgerichtet werden. Das ist die Verantwortung von Führung. Gleichzeitig ist aber die Zukunft unbekannt, ungewiss, unsicher und unkalkulierbar. Wir sind somit in der nächsten Paradoxie oder eigentlich in der Paradoxie der Paradoxie.

„Gelöst“ wird diese Paradoxie insbesondere in großen Unternehmen derzeit häufig damit, dass die Bearbeitung wesentlicher Aspekte dieser Unsicherheit an (oft extra dafür geschaffene) Stabstellen und/ oder externe Berater delegiert wird. Mit der Konsequenz, dass dadurch eine intensive Auseinandersetzung des General Management mit dem Schlüsselproblem der Zukunftsausrichtung der Organisation auch weitgehend außer Blick und Verantwortung gerät (vgl. Wimmer & Schumacher 2009, S.172)[2]. Womit die scheinbare Lösung das Problem verschärft.

Paradoxie 3: Die Abbildung der relevanten Umweltkomplexität in der Organisation macht diese tendenziell unsteuerbar

Eine weitere Paradoxie entsteht aus dem Zusammenspiel von steigender Komplexität in den externen Umwelten und den Bearbeitungsmöglichkeiten der Organisation als System: Je komplexer die Welt ist, desto komplexer muss die Organisation sein, um den Problemstellungen gerecht werden zu können. Dadurch wird aber der Lösungsmechanismus Organisation selbst enorm komplex und tendenziell unsteuerbar. Führung steht also vor der nicht minder relevanten wie paradoxen Aufgabe, die für die Organisation relevante Komplexität der Welt in der Organisation abzubilden und dadurch die Organisation selbst permanent umzubauen und damit auch komplex und unübersichtlich zu machen. 
Ein Teil der heute in vielen Organisationen zu beobachtenden weitgehenden Change-Erschöpfung in Folge einer wenig fruchtbaren Bearbeitung dieser Paradoxie dürfte dabei einem noch immer weit verbreiteten linearen und mechanistischen Zugang zur Gestaltung von Organisationen geschuldet sein. So zeigen etwa Buono & Kerber (2010, S.81ff.) auf Basis ihrer langjährigen Beratungserfahrung und akademischen Forschung im Bereich „Organizational Change“, dass Führungskräfte sich mittlerweile zwar verstärkt selbst in Veränderungsprozesse einbringen und sich auch ein umfangreiches Repertoire an Skills und Tools im Bereich des Change-Management angeeignet haben. Die so initiierten Prozesse der Veränderung selbst würden dann aber doch weitgehend direktiven und mechanistischen Mustern folgen, welche der gegeben dynamischen Umweltkomplexität nicht gerecht würden.

"In this context, however, change is largely viewed as linear and mechanistic, as a series of discrete and, at times, traumatic events that need to be controlled to enable the organization to achieve its goals. Given the onslaught of changes that a growing number of organizations now face, however, this carefully planned approach is quickly becoming inadequate as success in rapidly changing environments demands experimentation, improvisation and the ability to cope with unanticipated occurrences and unintended repercussions." (Buono & Kerber 2010, p.82)

Ein neues Leadership-Mindset: Zweite Schlussfolgerungen

Widersprüche und Paradoxien scheinen für Organisationen in komplex-dynamischen Umwelten grundsätzlich geradezu konstitutiv zu sein – ich werde in diesem Blog daher auch noch öfter darauf zurückkommen. Aus der Perspektive von Führung und Gestaltung erfordern Paradoxien die Fähigkeit, Paradoxien überhaupt als solche wahrzunehmen, zu reflektieren, Balancen auszuloten, zu besprechen und in einen Klärungs- und Entscheidungsprozess zu bringen. Das Komplementäre immer ist dabei immer mit zu denken und mit zu kommunizieren. Mehrere „Wahrheiten“ sind möglich. Widersprüche die sich wechselseitig auszuschließen scheinen, können gleichzeitig „richtig“ sein.

Organisationen können heute kaum mehr durch lineare Interventionen im Sinne des Modells der trivialen Maschine gesteuert und entwickelt werden. Das Nachdenken über sich selbst, Lagebesprechungen, die Organisation von Reflexion und Feedback werden angesichts des obigen Befundes immer mehr zu DEN relevanten Steuerungsmitteln und Managementinstrumenten, über die Führungskräfte heute verfügen sollten.    
Es braucht in komplex-dynamischen Umwelten gemeinsame Einschätzung und Reflexion und den Einbau von Mechanismen, Rückkoppelungen und Schleifen, welche den Zustand des Systems tatsächlich diagnostizieren anstatt durch umfassende und bürokratisierte Kontrollsysteme einen flachen eindimensionalen Datenstrom von den dezentralen Einheiten zu den Zentralen zu etablieren (und dort den Eindruck Sicherheit und Machbarkeit erzeugen).

Anstatt direktiver Interventionen – die sich oft aus diesen umfangreichen Datensammlungen nur scheinbar logisch ableiten lassen -- besteht die Kunst des Führens vielmehr darin, Räume zu kreieren, in welchen sich das für den Leistungsprozess und den Prozess des Organisierens relevante Wissen emergent bildet und die Begrenzungen der Räume so zu setzen, dass das Wissen outputorientiert und strategieanalog gebildet wird. Ein komplexitätsgerechter Zugang zu Führung, der am Gedanken der Selbstorganisation anknüpft ist dabei von Nutzen. Denn gerade weil die Welt immer komplexer und unübersichtlicher wird und sich schnell ändert und Organisationen paradoxe Gebilde sind lautet die Schlüsselfrage ja: Wie können all die externen Dynamiken und Veränderungen so verdichtet reduziert und doch effektiv mit der Organisation in Kontakt und dort auch in Prozesse gebracht werden damit die produktive Koppelung der Organisation mit der Welt erhalten bleibt?

Am Beginn des letzten Beitrags (Blogbeitrag 5) habe ich damit eingeführt, daß sich ein neues Leadership Mindset auf zwei Ebenen manifestieren und entwickeln muss: Auf Ebene des Gegenstandes, als des Begriffs von Organisation und auf Ebene der Handlung, also der Intervention. Mit einem neuen Zugang zu Organisation gerade aus der Perspektive von Führung habe ich mich im letzten Beitrag und jetzt hier auseinandergesetzt. Der nächste Beitrag wird sich mit der Frage der Führungsintervention näher befassen.



[1] Interview mit Joschka Fischer, in: Die Zeit, Nr.46. (2011), S.8. „Vergesst die EU“.

[2] Die gesamte in diesem Beitrag im Text angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.

Wovon Führungskräfte ausgehen können, wenn Sie mit Organisationen zu tun haben

Leadership im Umbruch (3)

Ich habe im letzten Beitrag das Modell der trivialen Maschine näher dargestellt, vor dem Hintergrund dass dieses Modell hochrelevant dafür ist, wie wir Organisationen und Führung verstehen und wie Führung in vielen Organisationen wahrgenommen und gelebt wird. Dieses Modell prägt immer noch unser Verständnis von Organisationen und damit unser Verständnis von Führung. Mit der Konsequenz – darauf bin ich im Blogbeitrag 3 schon eingegangen – dass Führungskräfte im komplex-dynamischen Wirtschaftsumfeld heute meist enorm unter Druck stehen.

Sie haben Schwierigkeiten, ihre Rollen zu finden, ihr Handeln schwankt zwischen extremen Polen von heldenhaften Machbarkeitsphantasien einerseits und Ohnmachtsgefühlen andererseits hin- und her, letztlich wird der Fokus auf das eigene Überleben gelegt, die Verantwortung gegenüber den MitarbeiterInnen und gegenüber der Organisation kann nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden. Entlastung könnten Potenziale der Selbstorganisation und Selbstentfaltung bringen, doch diese werden nicht ausreichend entfaltet, weil sie im Rahmen des vorherrschenden Organisationsverständnisses gar nicht wirklich gesehen werden.

Führung braucht heute eine zeitgemäße theoretische Basis, adäquate mentale Modelle und ein Mindset, welches den durch zunehmende Komplexität, Unsicherheit und Dynamik gestiegenen Anforderungen an Führung gerecht wird. Dieses neue Mindset muss auf zwei Ebenen entwickelt werden:       
a) auf Ebene des Gegenstandes, auf den sich Führung bezieht, d.h. Führung braucht einen neuen Begriff, eine neue Theorie der Organisation.       
b) auf Ebene der Form, wie geführt wird bzw. wie Wirksamkeit erzielt werden soll, d.h. es braucht eine neue Theorie der Intervention.

In diesem Beitrag möchte in damit beginnen, auf der Ebene der Theorie der Organisation erste grundlegende theoretische Elemente zu entwickeln. Im Laufe der nächsten Monate werde ich dann versuchen, hier immer wieder zu erweitern, zu verfeinern und vielleicht auch Teile wieder zu verwerfen, neu einzuführen etc.

Eine systemische Perspektive auf Organisationen

Aus der Perspektive einer offenen Systemtheorie sind Organisationen zunächst aufgabengetriebene soziale und wissensbasierte Systeme, die sich über Kommunikationen und Entscheidungen reproduzieren (vgl. zB. Willke 1998[1]; Wimmer 2009; Meissner/ Wolf/ Wimmer 2009; Schumacher 2013). Wesentlich an dieser Definition sind folgende Aspekte:

aufgabengetrieben:
Organisationen konstituieren sich um gewisse Aufgaben herum. Sie greifen gesellschaftliche Themen auf und organisieren um diese ungelösten/ unbearbeiteten Themen -- quasi als eine Art von Antwort auf das ungelöste -- Thema Bearbeitungsprozesse als deren Ergebnis sie Kunden mit Gütern und Dienstleistungen versorgen.

sozial:
Die soziale Verfasstheit von Organisationen verweist darauf, dass gelingende Beziehungen zwischen den AkteurInnen, ein gelingende Bearbeitung und Nutzung von Emotionen und eine gelingende Kommunikation zentrale Erfolgsfaktoren für ein nachhaltiges Überleben der Organisation sind. Erfolgreiche Organisationen nutzen und mobilisieren die Energie, die bei Menschen auf der Beziehungsebene vorhanden ist und treiben damit die Bearbeitung ihrer Aufgaben voran.

wissensbasiert: 
In Organisationen korreliert das Wissen von Personen mit dem in die Operationsweise der sozialen Systeme eingelassenen Wissen. Organisationen benötigen damit immer zwei Arten von Wissen, um den sich ständig verändernden Anforderungen der Umwelten gerecht zu werden: Das Wissen als Kompetenz und Know-How der MitarbeiterInnen und das kollektive Wissen der Organisation (vgl. insbesondere Willke 1998).

System:
Durch die Einführung des Systembegriffs wird deutlich, dass Organisationen sich an ihren eigenen Systemrationalitäten orientieren. Sie erzeugen sich dabei durch eigene Operationen selbst, erst die permanente Fortsetzung dieser Operationen garantiert ihre Zukunft. Dabei ist zu beachten, dass eine Organisation meist auch ein komplexes Netzwerk interner und externer Subsysteme darstellt, die jeweils wiederum ihrer eigenen Logik folgen. Denn Leistungssteigerung in Organisationen erfolgt ganz wesentlich über den Hebel der funktionalen Differenzierung, d.h. es werden eigenständige Bereiche etabliert, die jeweils ein unterschiedliches Set an  Aufgabenstellungen bearbeiten (zB: Marketing, F&E, QM). Indem sich diese Teilbereiche dann mit ihrer ganzen Kraft und Kompetenz ihrer Aufgabe widmen generieren sie notwendigerweise auch Engführungen auf ihre eigenen Interessen. Es entstehen Partikularinteressen, die einander im Kampf und Ressourcen und Aufmerksamkeit widersprechen.

Organisationen erzeugen und reproduzieren sich als Organisationen, indem sie als System und in ihren Teilsystemen nach systeminternen Vorgaben (Selektionskriterien) Kommunikationen und Entscheidungen an Kommunikationen/ Entscheidungen anschließen. Dieser Reproduktionsprozess orientiert sich gleichsam an seiner eigenen historisch generierten „Melodie“. Diese bemerkenswerte Fähigkeit eines Systems, die Elemente, aus denen besteht, immer wieder selbst zu produzieren und zu reproduzieren, also in diesem Prozess immer wieder gleichermaßen Poduzent wie auch Produkt zu sein, wird als Autopoiesis bezeichnet (vgl. Varela et. al 1974)

Kommunikationen:
Ein systemtheoretisches Verständnis fasst das Phänomen der Organisation als soziales System, das aus Kommunikationen (und eben nicht aus Gebäuden, Maschinen, MitarbeiterInnen oder auch Beziehungen) besteht. Kommunikationen sind jene Elemente/ Mechanismen, welche die Vielzahl der Akteure so koppeln, dass ein koordiniertes Handlungssystem entsteht. Die Funktion von Kommunikation liegt somit in der Koordination von Akteuren mit ihren Aktionen und nicht etwa einfach im Transport von Nachrichten (Simon 2009, S.49f.) Die Interaktion/ Kopplung ist nicht auf Interaktion unter Anwesenden beschränkt. Erst durch die Interaktionen zwischen Anwesenden und Abwesenden wird es möglich, die Handlungen von vielen 100en Menschen und mehr zu koordinieren.

Entscheidungen:
Entscheidungen stellen in dieser Hinsicht lediglich einen Spezialfall der Kommunikation dar, in gewissem Sinn ihre basale Form (Willke 2013, S.63). Ihre Organisationsfunktion darin besteht, dass über sie Komplexität reduziert und diese damit handhabbar gemacht werden kann. Durch Entscheidungen verwandeln Organisationen Ungewissheit in Gewissheit. Organisationen überleben, indem sie Entscheidung an Entscheidung knüpfen, also über Entscheidungen und nicht mittels Wissens über die Zukunft! (Schumacher 2013, S.168) Dadurch erst entsteht Stabilität, als Errungenschaft, die täglich neu hergestellt werden muss.

Eine derartige Perspektive auf Organisationen verweist darauf, wie voraussetzungsreich und prekär die nachhaltige Entwicklung von Organisationen ist. Organisationen weisen keine naturgegebene Stabilität auf, im Gegenteil: Bei genauerem Hinsehen werden jede Menge für den Zusammenhalt der Organisation zentrifugal wirkender Eigendynamiken, Eigenlogiken und Widersprüche deutlich, die es zunächst einmal eher unwahrscheinlich machen, dass der Prozess des Organisierens überhaupt erfolgreich sein kann. Mit den Worten Karl Weicks:

"Wir bevorzugen eine Auffassung von Organisation, die davon ausgeht, dass Organisationen andauernd auseinanderfallen und deshalb beständig neu aufgebaut werden müssen.        
Prozesse müssen permanent neu verwirklicht werden.
Administratoren wissen das, Organisationsforscher müssen ständig daran erinnert werden.“ (Karl Weick 1995, S.67)

Stabilisierung und Zusammenhalt von Organisationen müssen im Prozess des Organisierens erst hergestellt werden....

In diesem Verständnis von Organisationen stehen Diskontinuität und permanenter Zerfall im Fokus der Aufmerksamkeit. Organisation wird weniger als materielle oder strukturelle Substanz wahrgenommen, sondern vielmehr als Gesamtheit von Prozessen, die nur deswegen bestehend bleiben können, weil verantwortliche FunktionsträgerInnen sich darum kümmern, dass diese Prozesse immer wieder auf das Neue realisiert und fortgesetzt werden.

Das mag auf den ersten Blick irgendwie klar und unspektakulär anmuten. Tatsächlich ist die Bearbeitung all dieser Widersprüche an sich schon eine enorm herausfordernde und voraussetzungsvolle Angelegenheit. Sie ist das Kerngeschäft von Führung. Führungskräften muss es zunächst einmal gelingen, die Stabilität von Prozessen überhaupt herzustellen. Sie müssen dafür sorgen, „dass die vorgegebenen Ziele nicht in Vergessenheit geraten, haben Abweichungen von bewährten Routinen anzusprechen und auch dafür zu sorgen, dass die Sachebene der Aufgabenerfüllung nicht durch die Beziehungsebene gestört wird. Kurz: sie müssen dafür sorgen, dass sich nichts ändert.“ (Bauer 2011, S.36)

Führung muss für notwendige Planung, Berechenbarkeit, Leistungsfähigkeit und damit Sicherheit sorgen. Nur durch die permanente Versorgung mit Führungsinterventionen können die Teilsysteme davon abgehalten werden, dass sie „(...) sich vom Ziel entfernen, was Neues ausprobieren, Unfug treibe, oder was auch sonst immer tun, jedenfalls nicht starr bleiben.“ (ebenda) Die Organisation braucht die Stabilisierung von erforderlichen Rahmenbedingungen, Regeln und Strukturen, um das Alltagsgeschäft erledigen zu können und den Zusammenhalt der Organisation zu gewährleisten.

....wie auch Irritation, Dynamik und Veränderung

Angesichts sich dynamisch verändernder Umwelten, Kunden und Märkte (Stichworte: „Speed of Change“, Wandel ist die Konstante) besteht für Organisationen andererseits die Notwendigkeit, möglichst frühzeitig Veränderungsprozesse einzuleiten und neue Strukturen zu implementieren bzw. existierende Abläufe und Prozesse weiter zu entwickeln. Organisationen müssen also – parallel zu Prozessen der Routinisierung, Stabilisierung und Normierung – auch Prozesse bereitstellen, die Veränderung, Dynamik, kalkulierte Unsicherheit und Irritation auslösen und damit das System mit jener Spannung versorgen, die es zur nachhaltigen und zukunftsfähigen Erfüllung seiner Aufgaben benötigt. 
In Zeiten rasanten Wandels und komplex-chaotischer Umwelten steht dabei die „Organizational Capability“ im Vordergrund in organisatorischen Alternativen und neuen Organisationsdesigns zu denken und – innerhalb des Unternehmens, aber insbesondere auch im Umgang mit KundInnen, KooperationspartnerInnen und anderen relevanten Stakeholdern – phantasievolle organisatorische Strukturen zu entwickeln.

Ein neues Leadership-Mindset: Erste Schlussfolgerungen

Ein verändertes Umfeld (Stichwort: VUKA); Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität)[2] stellt heute veränderte Anforderungen an Organisationen. Das im Rahmen der offenen Systemtheorie entwickelte konzeptionelle Verständnis von Organisationen knüpft an diesen Anforderungen an und beschreibt Organisationen als aufgabengetriebene, soziale, wissensbasierte Systeme die sich über Kommunikationen und Entscheidungen quasi autopoietisch reproduzieren.

Ein solches Organisationsverständnis kann heute auch für PraktikerInnen – also insbesondere Führungskräfte und BeraterInnen – einen hilfreichen Rahmen zur Gestaltung des eigenen Führungshandelns bieten. Folgende Punkte stehen dabei im Fokus:

In ihrer sozialen Verfasstheit verweisen Organisationen auf die Relevanz von gelingender Beziehungsgestaltung und auf den Erfolgsfaktor Kommunikation. Emotionen, ihre Bearbeitung, sowie Motivation und Energie der Mitarbeitenden geraten in den Blick und bilden ein zentrales Feld der Führungsintervention.

Der Aspekt der wissensbasiertheit öffnet den Blick für die Koppelung des Wissens von Personen mit dem in die Operationsweisen, Abläufe und Prozesse der Organisationen eingewobenen Wissen.

Der Systembegriff führt deutlich vor Augen, dass Organisationen aus einem mehr oder weniger komplexen Netzwerk interner und externer Subsysteme bestehen, die jeweils ihrer eigenen Logik und Operationsweise folgen und damit Engführungen und Partikularinteressen befördern. 
Mit dem im Systembegriff mitangelegten Konzept der Autopoiesis werden orgsanisationskonstituierende Mechanismen der Selbstorganisation sichtbar und begreifbar: Als Fähigkeit eines Systems, die Elemente aus denen es besteht immer wieder selbst zu produzieren.          
Lineares Führungshandeln im Sinne des Modells der trivialen Maschine muss daher notwendigerweise immer an die Grenzen der Selbstorganisation autopoietischer Subsysteme stoßen und dort scheitern. Oder aber -- im noch gravierenderen Fall – kann damit die Selbstorganisationsfähigkeit von (Sub-)Systemen (und somit auch ein relevantes Potenzial für die Organisation) zerstört werden.

Indem die Perspektive auf die Reproduktion von (Teil-)Systemen durch Kommunikationen gerichtet wird gerät in den Blick, ob und wie AkteurInnen und ihre Aktionen gekoppelt sind. Denn erst durch eine adäquate Koppelung von AkteurInnen und Aktionen kann ein koordiniertes Handlungssystem entstehen. Diese Koppelungen zu beobachten und bei Bedarf (wieder) herzustellen ist daher eine kritische Führungsaufgabe, die es permanent im Blick zu behalten gilt.

Organisationen können nur überleben indem sie als basale Form von Kommunikation Entscheidung an Entscheidung knüpfen, dadurch Unsicherheit in Gewissheit verwandeln und Komplexität dabei reduzieren. Aus der Perspektive von Führung weist dieser Fokus insbesondere auf Fragen der Entscheidungsvorbereitung, des Treffens von Entscheidungen und ihrer Umsetzung hin.

Die Prozesshaftigkeit, die diesem Verständnis von Organisation, quasi konstitutiv eingeschrieben ist weist darauf hin, dass sowohl Stabilität als auch Veränderung in Organisationen durch adäquate Prozesse erst hergestellt werden müssen. Aus beiden Ebenen braucht es passende Führungsarbeit und Interventionen, diese können parallel und gleichzeitig laufen und fordern die Führungskraft gerade in Form ihrer Paradoxie heraus.

 

[1] Die gesamte in diesem Beitrag im Text angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.

[2] siehe dazu auch BLOG 4

Warum das Maschinenmodell zwar noch immer handlungsleitend ist, aber immer weniger wirksam

Leadership im Umbruch (2)

Im Rahmen von Führungscoachings oder zum Einstieg in Leadership-Trainings stelle ich manchmal folgende Fragen: Was konkret verstehen Sie eigentlich unter Führung? Wodurch glauben Sie, dass Sie als Führungskraft wirksam sind? Was tun Sie genau, wenn Sie führen? Woran orientieren Sie sich in ihrem Führungshandeln“.    

Zuweilen begegnet mir dann als erste Reaktion ein gewisser Unmut, schließlich wäre doch klar, was man als Führender zu tun habe: Führen mit Führungsinstrumenten bzw. die Erfüllung von Führungsaufgaben, die in der Job-Description beschrieben sind. Manche sagen aber auch ganz ehrlich: „So habe ich mir das noch gar nie überlegt.“

Im Verlauf der Bearbeitung dieser Fragen, welche die SeminarteilnehmerInnen nach dem ersten Zögern meist mit großer Leidenschaft betreiben, werden als typische Schwierigkeiten und Herausforderungen für das eigene aktuelle Führungshandeln oft Punkte wie folgende heraus gearbeitet:

„Es gibt in meiner Abteilung formale Berichtswege, ich habe die MitarbeiterInnen darauf auch schon, sogar mehrmals, darüber in Kenntnis gesetzt, aber dennoch diese Berichtswege nicht eingehalten. Die nehmen das einfach nicht Ernst“

„Im Zielvereinbarungsgespräch habe ich Frau B. gesagt, dass ich bei jedem Mail an die Abteilung Grau durch ein cc mitinformiert werden möchte. Das wird völlig ignoriert.“

„Die Anweisung war völlig klar: Wenn der Hauptverantwortliche in der Früh die Dienstübergabe macht, dann muss auch die Kassa kontrolliert werden und das Übergabebuch vollständig ausgefüllt sein. Das passiert nur jeden zweiten Tag, an jedem zweiten Tag passiert das aber nicht.“

„Ich habe es jetzt oft genug gesagt: mich nervt es, dass zu Beginn der Dienstbesprechung nicht einmal die Hälfte aller MitarbeiterInnen da ist, die Trudeln erst nach 10-15 Minuten langsam ein. Das ändert aber nichts.“

All diese Punkte haben einen gemeinsamen Kern: Die Führungskräfte erleben ihr Führungshandeln als wenig bzw. nicht ausreichend wirksam.

Vom Unterschied zwischen Absicht und Wirkung

Das mentale Modell, das hier handlungsleitend wirksam ist, kann folgendermaßen beschrieben werden: Es wird ein Problem entdeckt (z.B. formale Berichtswege werden nicht eingehalten), diesem wird eine kausale Ursache zugeordnet (MitarbeiterInnen kennen die formalen Berichtswege nicht). Aus dieser Ursache-Wirkungskette wird nach logischen Prinzipien eine Führungshandlung abgeleitet (Ich muss sie davon in Kenntnis setzen), mit der Erwartung, dass mit der Umsetzung dieser Führungshandlung das Problem beseitigt ist. Tritt dieser Effekt nicht ein, so wird die Führungshandlung wiederholt („sogar mehrmals“). Wenn das erwartete Ergebnis dann immer noch nicht eintritt, dann liegt offenbar eine Störung vor. Es ist der Moment den Frank Frei (2010, S.10) für „eine der Hauptsünden in der täglichen Führungsarbeit hält, nämlich „(...) dass man das was man beabsichtigt, auch schon für die Wirkung hält. Und wenn einen dann die Fakten – also beispielsweise die Reaktionen der Mitarbeitenden – eines anderen belehren, ist man zunächst irritiert. ´Aber ich habe doch extra das und dies getan, um...´“.

Es ist der Moment den Frank Frei (2010, S.10) für „eine der Hauptsünden in der täglichen Führungsarbeit hält, nämlich „(...) dass man das was man beabsichtigt, auch schon für die Wirkung hält. Und wenn einen dann die Fakten – also beispielsweise die Reaktionen der Mitarbeitenden – eines anderen belehren, ist man zunächst irritiert. ´Aber ich habe doch extra das und dies getan, um...´“.

Von trivialen Maschinen

Heinz v. Foerster (vgl. Foerster & Pörksen 2003; Müller & Müller 1997)[0] hat diesen mentalen Frame, diesen Denkrahmen treffend als Modell einer trivialen Maschine beschrieben und durch folgende Merkmale charakterisiert:

  • Im Zentrum steht die Idee linearer Kausalität.
  • Es gibt eine quasi gesetzmäßige Beziehung zwischen einem Input und einem Output, d.h. es ist für einen Beobachter vorhersagbar, durchschaubar, beschreibbar und im Nachhinein auch rekonstruierbar wie die Maschine auf einen bestimmten Input reagiert (analytische Bestimmbarkeit und Berechenbarkeit).
  • Die lineare Kausalität bedingt auch Monokausalität. Es gibt immer nur eine „Wahrheit“. Die gleichzeitige Existenz von Sichtweisen, die sich wechselseitig ausschließen ist nicht möglich.
  • Sofern der Beobachter auch über ausreichende Kompetenz und alle relevanten Informationen verfügt, ist die Maschine für den Beobachter auch steuerbar (Steuerbarkeit).
  • Daher führt auch jede Wiederholung eines Inputs immer zum gleichen Ergebnis (Serialität).
  • Die inneren Zustände dieser Maschine bleiben stets dieselben. Sie ist vergangenheitsunabhängig und macht keine eigenen Erfahrungen. Sie ist vor jeder Veränderung, Entwicklung oder von Lernen abgekoppelt (Lern- und Entwicklungsresistenz).
  • Die Maschine verfügt damit auch über keinerlei Selbstorganisations, Selbstentfaltungs- und –heilungskräfte. Sie muss müssen entweder quasi von Außen durch das Management aktiviert und gesteuert werden oder sie bleibt inaktiv.
  • Es zählt nur das Ergebnis (Ergebnisorientierung)
  • Eine Abweichung vom erwarteten Ergebnis wird als Fehler oder Störung quittiert. Es bedarf dann eines/er ExpertIn, um die Maschine wieder zu reparieren bzw. zu trivialisieren (Perfektionsanspruch).

...und rationalen Organisationen

Im Lichte des Maschinen Modells (vgl. auch Schreyögg & Sydow 2001, S.81; Simon 2009, S.41; Meissner/ Wolf/ Wimmer 2009), werden Organisationen – sowohl in ihren Strukturen als auch in ihren Prozessen – als rationale Gebilde zur Problembewältigung im Sinne des Unternehmensganzen verstanden. Organisation ist demnach ein Mechanismus, ein System und ein Ort und Raum zur Herstellung von Planbarkeit, Berechenbarkeit, Ordnung und der Steuerung von Handlungen im Rahmen dieser Ordnung. Organisationen wirken als Instrumente zur Umsetzung extern – zB. durch das Management oder Unternehmenseigner – vorgegebener Ziele.

Als zielorientierte soziale Systeme bestehen Organisationen aus einzelnen FunktionsträgerInnen und Teilsystemen deren Aktivitäten und rationales Zusammenspiel Beiträge zur Zielerreichung leisten. Personen werden primär als TrägerInnen von Funktionen wahrgenommen und weitgehend als austauschbare Komponenten gesehen. Emotionen als Portfolio von an Person und Individualität gekoppelten geistig-seelisch Gestimmheiten kommen in diesem rationalisierten Organisationsbild nicht vor. Organisationen werden damit auch klar von anderen Systemen abgegrenzt, die ihre Entscheidungen auf Grund von Automatismen, Traditionen oder Autoritäten treffen (Kühl 2010, S.215ff.)

...zu einem heroisch-instrumentellen Führungsparadigma

Ein am Maschinen-Modell anknüpfendes Verständnis von Führung und Steuerung positioniert Führung und Management als steuernder Inputgeber außerhalb der Maschine/ der Organisation/ des zu steuernden Systems. Es ist dann Aufgabe der Führung der Organisation das Ziel vorzugeben und sich durch den Aufbau von Kontroll- und Evaluationssystemen mit allen relevanten Informationen und Daten zu versorgen. Alles was sich der Erfassung durch Daten entzieht bzw. sich als irrational erweist wird negativ attribuiert und entweder ausgeblendet oder muss eliminiert werden. Mit dem allwissenden Blick auf die aktuellen Notwendigkeiten ausgestattet besteht das daran anknüpfende Führungshandeln durch Führungskräfte im wesentlichen aus Kommunikationen von Befehlen, Anweisen, Kontrolle und Sanktion, die über Führungstools vermittelt werden. Emotionen und psychologische Aspekte werden als Störfaktor wahrgenommen. Die Aufgabe der Führung besteht demnach auch darin, diesen Störfaktor zu eliminieren, oder zumindest zu kontrollieren und zu beherrschen.           
Da Führung quasi von Außen wahrgenommen wird, kann sie auch keine im System bzw. in der Organisation verankerte Kompetenz bzw. Capability sein. Führung ist daher an die steuernden Führungskräfte als Personen und ihre persönlichen Merkmale und angeborenen Fähigkeiten (wie etwa Charisma) gebunden. Führung ist also eine Frage der Persönlichkeit. Quasi: Die Führungskraft mit ihren persönlichen heldenhaften Attributen ist auch schon die Führung (Seliger 2009, S.22ff).

Ich nenne dieses Führungsparadigma einerseits heroisch, da es die Person des charismatischen und durch seine persönlichen Eigenschaften und Kompetenzen glänzenden Leaders in das Zentrum stellt. Und andererseits instrumentell-positivistisch, da systematische Informationserfassung und ein daraus logisch abgeleitetes Führungshandeln umgesetzt durch Führungstools die Grundlage des Führungshandelns bilden.

Warum das heroisch-instrumentelle Führungsparadigma zwar immer noch handlungsleitend ist....

„(...) ich behaupte, daß sich unsere westliche Kultur geradezu in diesen Typ von Maschine verliebt hat. Sie ist der Inbegriff unserer Sehnsucht nach Gewißheit und Sicherheit.“ (Heinz v Foerster[1]).

Tatsächlich ist das Maschinen-Modell tief in unsere westliche Kultur eingewoben[2]. Seine erkenntnistheoretischen Grundlagen wurzeln in der Descart´schen Universalmathematik[3] und in der Newton´schen Mechanik[4] ebenso wie im kritischen Rationalismus von Karl Popper und basiert damit auf epistemischen Positionen, die nach wie vor in unseren politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Systemen weitgehend unumstritten sind (vgl. Meissner/ Wolf/ Wimmer, 2009):

  • die Wirklichkeit besteht unabhängig von denen, die sie beobachten.
  • Systematische Beobachtungen führen zur objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit (Gesetzmäßigkeiten, Theorien, Ursache-Wirkungs-zusammenhänge).
  • Die Regeln des wissenschaftlichen Erkennens ermöglichen einen rationalen Lernprozess, in dem das Wissen über Natur und Gesellschaft ständig erweitert wird.

An den Universitäten und Business Schools ist ein vom Maschinen-Modell geprägtes rationalistisches Verständnis von Führung und Organisationen auch nach fast vier Jahren Wirtschafts- und Finanzkrise noch immer die dominante Blaupause für Führungslehrgänge und Managementausbildungen. Mintzberg (2004) kritisierte schon nach dem Platzen der Internetblase zu Beginn der Jahrtausendwende , dass insbesondere in den MBA-Lehrgängen eine Fixierung auf Instrumente und Techniken wie Wettbewerbsanalysen, Planspiele, scholastisch mathematisierte Marktmodelle und Fallstudien vorherrscht, ohne irgendeine Berücksichtigung von konkreten Kontexten in der Verwendung dieser Tools.         
Die Studierenden an den Business Schools würden vor allem lernen, Fakten bis ins Kleinste auseinander zu nehmen und dann, aufbauend auf diesen Ergebnissen Entscheidungen zu treffen. Management wird dabei ausschließlich als Wissenschaft verstanden. In dieser verengten Perspektive geht es darum, durch logisch konstruierte Analysemodelle Ergebnisse herbei zu führen, auf deren Basis dann eine Entscheidung getroffen werden kann, die sich von banalen menschlichen Fragen und Problemen nicht mehr irritieren zu lassen braucht.    
Auch wenn es mittlerweile an den Universitäten und Business Schools eine Reihe von Kursen und Lehrgängen angeboten wird, welche alternative Zugangsweisen eröffnen (zB. Kybernetisches Management, systemische Führung, Responsible Leadership) so hat sich doch am Befund von Mintzberg seither wenig verändert. Ein großer Teil der an den akaemischen Einrichtungen angebotenen Führungs- und Managementprogramme ist nach wie vor am rationalistischen Organisations- und Führungsleitbild orientiert.

Und schließlich zeichnen und verstärken Massenmedien ebenso wie Fachmedien in ihrer Berichterstattung über Führungshandeln vorwiegend ein heroisches Managementleitbild, welches Führungskräfte distanziert über dem Unternehmen thronend zeichnet, wo sie auf Basis ihrer Analysen, Kennzahlen und Kontrollinstrumente ganz allein Entscheidungen fällen und Strategien entwickeln.

...aber immer weniger wirksam

Blickt man auf Organisationen durch die Brille einer trivialen Maschine, so wird es nicht möglich, ihre in der Empirie beobachtbare Eigendynamik, ihre Eigenwilligkeit und ihre Selbstbezüglichkeit zu begreifen. Potenziale, die an Selbstorganisation und Selbstentfaltung anknüpfen bleiben ebenso ausgeblendet, wie Lernprozesse die im System stattfinden.

Im Kontext von hierarchisch-bürokratischen Organisationen, wie sie bis ins späte 20e Jahrhundert vorherrschend und modellhaft waren mag dieser Verzicht auf die Potenziale der Selbstorganisation wenig Rolle gespielt haben. Im Zentrum der Organisationsanstrengungen stand schließlich eine technisch perfektionierte auf störungsfreie Redundanz ausgerichtete Bearbeitungsmaschinerie (vgl. Wimmer 1995). In einem solchen Umfeld stellt Komplexität kein wirkliches Problem dar und Selbstorganisation wirkt tatsächlich eher störend.

Die Situation hat sich allerdings dramatisch geändert: Wir leben aber heute in einer dynamischen Welt, in der sich Bedürfnisse von SchlüsselkundInnen oder Produkttechnologien ebenso rasch ändern wie die Anforderungen an MitarbeiterInnen und Führungskräfte. Volatitlität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität prägen das Umfeld von Organisationen. Wandel wird zur einzigen Konstante.

In einer Umwelt, in der Unvorhersehbares zur täglichen Herausforderung für Management und Organisationen wird, kann Führung immer weniger auf dem vertrauten Leitbild von heroisch-instrumenteller Steuerung vermeintlich rationaler Systeme beruhen. „Managing the Unexpected“ stützt sich daher auf die Fähigkeiten von Wahrnehmen, Abwägen und „im Moment und vor Ort“ Entscheiden. In diesem Mind-Set beschreibt Steuerung einen ständigen Kreislauf aus sich immer wieder Schritt für Schritt an eine Aufgabe herantasten, entscheiden, handeln und beobachten. Es geht gerade darum, neue Formen von Führungshandeln und Steuerung zu entwickeln, die Selbstorganisation und Selbstentfaltung fördern und Komplexität zu nutzen. Schließlich wird es in komplex-dynamischen Umfeldern schlichtweg unmöglich, dass zentrale Führer und Manager, über jenes relevante Wissen verfügen, das nötig ist, um wirksame und zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen. Diese Kenntnisse und das Wissen sind unter den AkteurInnen in und um die Organisation verteilt und diese gilt es zu nutzen, nur so kann auch Komplexität nutzbar gemacht werden.

Im nächsten Blogbeitrag werde ich mich näher damit auseinander setzen, wovon in diesem turbulenten Umfeld ein zeitgemäßes Führungsverständnis ausgehen könnte.



[0] Die gesamte in diesem Beitrag im Text angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.

[1] In: Foerster, H.v. & Pörksen, B. (2003), S.55

[2] So kommt zB. die Maschinenmetapher in der Analogie des menschlichen Körpers als Maschine auch schon bei Hamlet vor, der seiner Geliebten Ophelia beteuert, dass er ihr so lange gehört, wie er sich seines Körpers mächtig fühlt: “Thine everymore, most dear lady, whilst this machine is to him, Hamlet.“ (William Shakespeare 1600/ 1601: Hamlet, 11.2. 122-124)

[3] Der Philosoph und Mathematiker René Descartes (1596 – 1650) entwickelte im 17. Jahrhundert eine Art Universalmathematik in der sämtliche Phänomene der Welt durch deduktive Methode der Logik als universellem Erkenntnismittel erklärt werden sollen. Descartes begründete damit die Basis für ein in der Moderne dann weitgehend entfaltetes mechanistisches Menschenbild, „nach dem der Mensch als souveränes Subjekt kraft seiner sinnlichen Wahrnehmung und seines logisch analytischen Verstandes die Objektwelt in seine Bestandteile zerlegen, quantifizieren und erklären kann.“ (Mingers 1996)

[4] Der ebenfalls in der Hochblüte des Rationalismus lebende Physiker, Mathematiker und Astronom Isaac Newton (1643-1727) begründete mit seinen universellen Gesetzen der Bewegung die klassische Mechanik. Das Universum wird damit zu einem mechanischen System, basierend auf den Annahmen der formalrationalen Logik, linearer Kausalität, Berechenbarkeit und Prognostizierbarkeit. Newtons Gesetze sagen voraus, „auf welchen Bahnen die Planeten um die Sonne kreisen, wann ein vom Schreibtisch rollender Bleistift den Fußboden erreicht und wohin die Scherben einer an die Wand geworfenen Tasse geschleudert werden.“ (ebenda).

Führungskräfte unter Druck

Leadership im Umbruch (1)

Führungskräfte sind zunehmend unter Druck. Dieser Befund ist einhellig, er wird zur Zeit in den Wirtschaftsteilen der Tageszeitungen genau diskutiert, wie in den Fachzeitschriften für Management und Beratung oder in Talk-Shows und Fernsehbeiträgen. Die Agentur Ketchum Publico hat in ihrem Leadership Monitor 2012 hervorgestrichen, dass weltweit ist nur ein Drittel der MitarbeiterInnen mit ihren Führungskräften zufrieden ist[1].

Angesichts dieser oftmals konstatierten "Krise der Führung" möchte ich mich daher in den nächsten Blogbeiträgen unter dem Label "Leadership im Umbruch" den Rahmenbedingungen und den Herausforderungen widmen, in welche Führungshandeln heute eingebettet ist. Was sind tatsächlich die Probleme? Sind Lösungen und Auswege am Horizont erkennbar? Was kann aus der Perspektive der Beratung getan werden? Im diesem anfänglichen Beitrag soll es um eine erste Bestandsaufnahme von Problemen, Herausforderungen und Erwartungen gehen, welche das Handeln von Führungskräften heute prägen.

Die Erfahrung aus vielen Beratungsprojekten, Trainings und Coachings ist, dass Führungskräfte zunehmend Schwierigkeiten haben, ihre Rollen zu finden. Oft scheint sich Führungshandeln angesichts dynamischer und komplexer Umwelten aufzulösen: In für MitarbeiterInnen beliebig erscheinende Zick-Zack-Kurse und willkürliche Ad-hoc Entscheidungen von Führungskräften.

Im Kontext einer unübersichtlichen Landschaft mit vielfältigen und widersprüchlichen Interessen entwickelt sich Führungshandeln scheinbar arbiträr zwischen zwei Polen: Heldenhaften Machbarkeitserwartungen und –phantasien wie sie auch an vielen Managementschulen gelehrt werden einerseits und Ohnmachtsgefühlen andererseits, die immer wieder erfahren werden, wenn die Machbarkeitsansprüche an die Grenzen einer komplexen und dynamischen Wirklichkeit stoßen.

Dieser enorme Gap zwischen Machbarkeitsphantasien und Ohnmachtsgefühlen findet seinen Spiegel in den  Erwartungen, welche auch die Gesellschaft an Führungskräfte hat (Mirvis et al. (2010)[2] Einerseits gibt es rasant steigende Erwartungen der Gesellschaft an die Ziele und die Wirkung des Managements -- wie z.B. „Not harming the environment“, „Treating employees fairly“, „Ensuring responsible supply chain“ , „Providing quality products/services at lowest price”, “Reducing impact on climate change”. Andererseits kommt es gleichzeitig zu einem ebenso drastischen Verfall des Vertrauens der Bevölkerung gegenüber den Business Leaders, jedenfalls in den entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften.

Realstrategien des „Durchfrettens und Durchwurstelns“ sind in der Praxis immer öfter die Folge die Folge. Führungskräfte konzentrieren sich auf das eigene Überleben im Konkurrenzsystem der eigenen Organisation. MitarbeiterInnenführung, proaktive Organisationsgestaltung und Strategiearbeit als zentrale Führungsfunktionen geraten außer Blick.

Die Folge sind Demotivation und brachliegende Potenziale bei den MitarbeiterInnen, eine Kultur des Mißtrauens in der Gesamtorganisation und damit Innovationsblockaden und Leistungsverlust. Diese Art der Nicht-Führung bzw. des Nicht-Verantwortens von Führung wird zunehmend auch als Ursache der seit 2008 andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise diskutiert. So stellt etwa Danica Purg, langjährige Rektorin und Professorin an der IEDC School of Management in Bled, den Beginn der Finanzkrise auch in Zusammenhang mit einem Führungsverhalten, das risikoaffin und relativ losgelöst von Verantwortlichkeiten und enggeführt auf eigene Interessen ausgerichtet ist. “Leaders did not only fail to prevent the crisis, but also caused it by irresponsible risk-taking, often serving their own personal financial interests”. (Purg 2010)[3]

Wichtig ist, dass es hier nicht um das Handeln oder gar um moralische Verfehlungen von einzelnen Führungskräften geht. Das mag es im Einzelfall auch geben, hat aber für die Analyse der Rolle, welche Führung in Unternehmen heute einnimmt, wenig Bedeutung. Mir geht es hier um Führung als gesellschaftliches Phänomen und als relevante Ressource der Entwicklung von Organisationen. Als solche ist Führung in der Krise.

Was sind die Ursachen der Führungskrise, was hält die Krise aufrecht? Welche Strategien und Optionen gibt es in der Führungskräfteentwicklung und auf Ebene der Organisationsentwicklung, um Führung wieder zu einer wirksamen und verantwortlichen Funktion im Sinne der nachhaltigen Leistungsentwicklung von Organisationen zu machen? Was können Führungskräfte tun, um Führung wirkungsvoll im Sinne der Zukunftsfähigkeit der Organisation  zu leben? Mit diesen Fragen werde ich mich in den nächsten Beiträgen beschäftigen.


[2] Die gesamte in diesem Beitrag angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.