....und dann auch noch Nichts als Paradoxien

Leadership im Umbruch (4)

ZEIT: Ist Deutschland seiner Größe wegen gewachsen?[1]

Fischer: Als Außenminister kam ich eines Tages zu meiner Freundin Madeleine Albright und habe gejammert: ´Es ist furchtbar. Was wir tun ist falsch. Engagieren wir uns, werden wir kritisiert. Engagieren wir uns nicht, werden wir auch kritisiert.´   
Da brach sie in schallendes Gelächter aus und sagte: "Ach, Joschka, das ist der Widerspruch von Führung. Amerika erlebt das täglich." Recht hat sie. Wir müssen lernen mit diesen Widersprüchen umzugehen.“

Vor dem Hintergrund des im letzten Beitrag (Blogbeitrag 5) entwickelten Organisationsverständnisses sind Aufgabe und Prozess von Führung offenbar durch eine grundlegende Paradoxie gekennzeichnet: Einerseits geht es darum, die Organisation mit Führungsinterventionen versorgen zu müssen, welche zu planbaren, berechenbaren und leistungsfähigen Prozessen führen und den Prozess des Organisierens erst ermöglichen und sicheren.        
Gleichzeitig gilt es aber auch, solche Interventionen zu setzen und Prozesse anzustoßen, welche Irritation, Veränderung und Dynamik auslösen und gerade damit verhindern, dass die Organisation in Routine und Stabilität erstarrt bzw. erst dadurch ein nachhaltiges Überleben der Organisation ermöglichen.

Paradoxie 1: Steuerung über die Zufuhr von Stabilität UND Irritation

Mehr noch als die beiden Mammutaufgaben an sich – Interventionen zum Herstellen von Stabilität einerseits und zur Förderung von Wandel andererseits – ist es die Gleichzeitigkeit, Beidhändigkeit und ständige Parallelität dieser scheinbar gegenläufigen Erfordernisse, welche die Aufgabe von Führung heute so enorm schwierig und so herausfordernd macht. Stabilität muss zunächst hergestellt werden, um dann immer wieder irritiert zu werden. Das ist ein bißchen wie: Dem Sysyphos zuerst auf den Berg zu helfen und ihn kurz vor dem Gipfel so zu irritieren, dass er den Felsblock doch wieder runterrollen lässt. Führungskräfte müssen ständig diese Paradoxie von stabilisieren und irritieren bearbeiten, bewältigen und in Balance halten und Entscheidungen treffen, welche Dinge zu stabilisieren sind bzw. welche zu verändern sind.

Was braucht das System gerade, um seine Aufgaben nachhaltig gut erfüllen zu können? Wo steht das System diesbezüglich gerade? Was muss sich verändern und was muss bleiben, damit Zukunft wahrscheinlich wird?

Führung aus dieser Perspektive erfolgt durch prozessorientierte Steuerung über Zufuhr und Irritation von Sicherheit. Diese Einschätzung vorzunehmen ist für die Führungskraft ebenso schwierig wie folgenreich: Interventionen in Richtung zu viel an Sicherheit als auch in Richtung eines zu viel an Irritation können schwerwiegende Folgen haben: für die Zukunftsfähigkeit von organisationalen Prozessen und Strukturen und für die Emotionen der beteiligten MitarbeiterInnen und Stakeholder.

Paradoxie 2: Ausrichtung der Organisation auf eine unbekannte Zukunft

Vertrackt wird die Sache überhaupt, wenn man sich vor Augen hält, dass der Entscheidungshorizont für die Bearbeitung dieser Paradoxie die ungewisse Zukunft ist. Organisationen müssen erfolgreich auf die Zukunft hin ausgerichtet werden. Das ist die Verantwortung von Führung. Gleichzeitig ist aber die Zukunft unbekannt, ungewiss, unsicher und unkalkulierbar. Wir sind somit in der nächsten Paradoxie oder eigentlich in der Paradoxie der Paradoxie.

„Gelöst“ wird diese Paradoxie insbesondere in großen Unternehmen derzeit häufig damit, dass die Bearbeitung wesentlicher Aspekte dieser Unsicherheit an (oft extra dafür geschaffene) Stabstellen und/ oder externe Berater delegiert wird. Mit der Konsequenz, dass dadurch eine intensive Auseinandersetzung des General Management mit dem Schlüsselproblem der Zukunftsausrichtung der Organisation auch weitgehend außer Blick und Verantwortung gerät (vgl. Wimmer & Schumacher 2009, S.172)[2]. Womit die scheinbare Lösung das Problem verschärft.

Paradoxie 3: Die Abbildung der relevanten Umweltkomplexität in der Organisation macht diese tendenziell unsteuerbar

Eine weitere Paradoxie entsteht aus dem Zusammenspiel von steigender Komplexität in den externen Umwelten und den Bearbeitungsmöglichkeiten der Organisation als System: Je komplexer die Welt ist, desto komplexer muss die Organisation sein, um den Problemstellungen gerecht werden zu können. Dadurch wird aber der Lösungsmechanismus Organisation selbst enorm komplex und tendenziell unsteuerbar. Führung steht also vor der nicht minder relevanten wie paradoxen Aufgabe, die für die Organisation relevante Komplexität der Welt in der Organisation abzubilden und dadurch die Organisation selbst permanent umzubauen und damit auch komplex und unübersichtlich zu machen. 
Ein Teil der heute in vielen Organisationen zu beobachtenden weitgehenden Change-Erschöpfung in Folge einer wenig fruchtbaren Bearbeitung dieser Paradoxie dürfte dabei einem noch immer weit verbreiteten linearen und mechanistischen Zugang zur Gestaltung von Organisationen geschuldet sein. So zeigen etwa Buono & Kerber (2010, S.81ff.) auf Basis ihrer langjährigen Beratungserfahrung und akademischen Forschung im Bereich „Organizational Change“, dass Führungskräfte sich mittlerweile zwar verstärkt selbst in Veränderungsprozesse einbringen und sich auch ein umfangreiches Repertoire an Skills und Tools im Bereich des Change-Management angeeignet haben. Die so initiierten Prozesse der Veränderung selbst würden dann aber doch weitgehend direktiven und mechanistischen Mustern folgen, welche der gegeben dynamischen Umweltkomplexität nicht gerecht würden.

"In this context, however, change is largely viewed as linear and mechanistic, as a series of discrete and, at times, traumatic events that need to be controlled to enable the organization to achieve its goals. Given the onslaught of changes that a growing number of organizations now face, however, this carefully planned approach is quickly becoming inadequate as success in rapidly changing environments demands experimentation, improvisation and the ability to cope with unanticipated occurrences and unintended repercussions." (Buono & Kerber 2010, p.82)

Ein neues Leadership-Mindset: Zweite Schlussfolgerungen

Widersprüche und Paradoxien scheinen für Organisationen in komplex-dynamischen Umwelten grundsätzlich geradezu konstitutiv zu sein – ich werde in diesem Blog daher auch noch öfter darauf zurückkommen. Aus der Perspektive von Führung und Gestaltung erfordern Paradoxien die Fähigkeit, Paradoxien überhaupt als solche wahrzunehmen, zu reflektieren, Balancen auszuloten, zu besprechen und in einen Klärungs- und Entscheidungsprozess zu bringen. Das Komplementäre immer ist dabei immer mit zu denken und mit zu kommunizieren. Mehrere „Wahrheiten“ sind möglich. Widersprüche die sich wechselseitig auszuschließen scheinen, können gleichzeitig „richtig“ sein.

Organisationen können heute kaum mehr durch lineare Interventionen im Sinne des Modells der trivialen Maschine gesteuert und entwickelt werden. Das Nachdenken über sich selbst, Lagebesprechungen, die Organisation von Reflexion und Feedback werden angesichts des obigen Befundes immer mehr zu DEN relevanten Steuerungsmitteln und Managementinstrumenten, über die Führungskräfte heute verfügen sollten.    
Es braucht in komplex-dynamischen Umwelten gemeinsame Einschätzung und Reflexion und den Einbau von Mechanismen, Rückkoppelungen und Schleifen, welche den Zustand des Systems tatsächlich diagnostizieren anstatt durch umfassende und bürokratisierte Kontrollsysteme einen flachen eindimensionalen Datenstrom von den dezentralen Einheiten zu den Zentralen zu etablieren (und dort den Eindruck Sicherheit und Machbarkeit erzeugen).

Anstatt direktiver Interventionen – die sich oft aus diesen umfangreichen Datensammlungen nur scheinbar logisch ableiten lassen -- besteht die Kunst des Führens vielmehr darin, Räume zu kreieren, in welchen sich das für den Leistungsprozess und den Prozess des Organisierens relevante Wissen emergent bildet und die Begrenzungen der Räume so zu setzen, dass das Wissen outputorientiert und strategieanalog gebildet wird. Ein komplexitätsgerechter Zugang zu Führung, der am Gedanken der Selbstorganisation anknüpft ist dabei von Nutzen. Denn gerade weil die Welt immer komplexer und unübersichtlicher wird und sich schnell ändert und Organisationen paradoxe Gebilde sind lautet die Schlüsselfrage ja: Wie können all die externen Dynamiken und Veränderungen so verdichtet reduziert und doch effektiv mit der Organisation in Kontakt und dort auch in Prozesse gebracht werden damit die produktive Koppelung der Organisation mit der Welt erhalten bleibt?

Am Beginn des letzten Beitrags (Blogbeitrag 5) habe ich damit eingeführt, daß sich ein neues Leadership Mindset auf zwei Ebenen manifestieren und entwickeln muss: Auf Ebene des Gegenstandes, als des Begriffs von Organisation und auf Ebene der Handlung, also der Intervention. Mit einem neuen Zugang zu Organisation gerade aus der Perspektive von Führung habe ich mich im letzten Beitrag und jetzt hier auseinandergesetzt. Der nächste Beitrag wird sich mit der Frage der Führungsintervention näher befassen.



[1] Interview mit Joschka Fischer, in: Die Zeit, Nr.46. (2011), S.8. „Vergesst die EU“.

[2] Die gesamte in diesem Beitrag im Text angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.

Wovon Führungskräfte ausgehen können, wenn Sie mit Organisationen zu tun haben

Leadership im Umbruch (3)

Ich habe im letzten Beitrag das Modell der trivialen Maschine näher dargestellt, vor dem Hintergrund dass dieses Modell hochrelevant dafür ist, wie wir Organisationen und Führung verstehen und wie Führung in vielen Organisationen wahrgenommen und gelebt wird. Dieses Modell prägt immer noch unser Verständnis von Organisationen und damit unser Verständnis von Führung. Mit der Konsequenz – darauf bin ich im Blogbeitrag 3 schon eingegangen – dass Führungskräfte im komplex-dynamischen Wirtschaftsumfeld heute meist enorm unter Druck stehen.

Sie haben Schwierigkeiten, ihre Rollen zu finden, ihr Handeln schwankt zwischen extremen Polen von heldenhaften Machbarkeitsphantasien einerseits und Ohnmachtsgefühlen andererseits hin- und her, letztlich wird der Fokus auf das eigene Überleben gelegt, die Verantwortung gegenüber den MitarbeiterInnen und gegenüber der Organisation kann nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden. Entlastung könnten Potenziale der Selbstorganisation und Selbstentfaltung bringen, doch diese werden nicht ausreichend entfaltet, weil sie im Rahmen des vorherrschenden Organisationsverständnisses gar nicht wirklich gesehen werden.

Führung braucht heute eine zeitgemäße theoretische Basis, adäquate mentale Modelle und ein Mindset, welches den durch zunehmende Komplexität, Unsicherheit und Dynamik gestiegenen Anforderungen an Führung gerecht wird. Dieses neue Mindset muss auf zwei Ebenen entwickelt werden:       
a) auf Ebene des Gegenstandes, auf den sich Führung bezieht, d.h. Führung braucht einen neuen Begriff, eine neue Theorie der Organisation.       
b) auf Ebene der Form, wie geführt wird bzw. wie Wirksamkeit erzielt werden soll, d.h. es braucht eine neue Theorie der Intervention.

In diesem Beitrag möchte in damit beginnen, auf der Ebene der Theorie der Organisation erste grundlegende theoretische Elemente zu entwickeln. Im Laufe der nächsten Monate werde ich dann versuchen, hier immer wieder zu erweitern, zu verfeinern und vielleicht auch Teile wieder zu verwerfen, neu einzuführen etc.

Eine systemische Perspektive auf Organisationen

Aus der Perspektive einer offenen Systemtheorie sind Organisationen zunächst aufgabengetriebene soziale und wissensbasierte Systeme, die sich über Kommunikationen und Entscheidungen reproduzieren (vgl. zB. Willke 1998[1]; Wimmer 2009; Meissner/ Wolf/ Wimmer 2009; Schumacher 2013). Wesentlich an dieser Definition sind folgende Aspekte:

aufgabengetrieben:
Organisationen konstituieren sich um gewisse Aufgaben herum. Sie greifen gesellschaftliche Themen auf und organisieren um diese ungelösten/ unbearbeiteten Themen -- quasi als eine Art von Antwort auf das ungelöste -- Thema Bearbeitungsprozesse als deren Ergebnis sie Kunden mit Gütern und Dienstleistungen versorgen.

sozial:
Die soziale Verfasstheit von Organisationen verweist darauf, dass gelingende Beziehungen zwischen den AkteurInnen, ein gelingende Bearbeitung und Nutzung von Emotionen und eine gelingende Kommunikation zentrale Erfolgsfaktoren für ein nachhaltiges Überleben der Organisation sind. Erfolgreiche Organisationen nutzen und mobilisieren die Energie, die bei Menschen auf der Beziehungsebene vorhanden ist und treiben damit die Bearbeitung ihrer Aufgaben voran.

wissensbasiert: 
In Organisationen korreliert das Wissen von Personen mit dem in die Operationsweise der sozialen Systeme eingelassenen Wissen. Organisationen benötigen damit immer zwei Arten von Wissen, um den sich ständig verändernden Anforderungen der Umwelten gerecht zu werden: Das Wissen als Kompetenz und Know-How der MitarbeiterInnen und das kollektive Wissen der Organisation (vgl. insbesondere Willke 1998).

System:
Durch die Einführung des Systembegriffs wird deutlich, dass Organisationen sich an ihren eigenen Systemrationalitäten orientieren. Sie erzeugen sich dabei durch eigene Operationen selbst, erst die permanente Fortsetzung dieser Operationen garantiert ihre Zukunft. Dabei ist zu beachten, dass eine Organisation meist auch ein komplexes Netzwerk interner und externer Subsysteme darstellt, die jeweils wiederum ihrer eigenen Logik folgen. Denn Leistungssteigerung in Organisationen erfolgt ganz wesentlich über den Hebel der funktionalen Differenzierung, d.h. es werden eigenständige Bereiche etabliert, die jeweils ein unterschiedliches Set an  Aufgabenstellungen bearbeiten (zB: Marketing, F&E, QM). Indem sich diese Teilbereiche dann mit ihrer ganzen Kraft und Kompetenz ihrer Aufgabe widmen generieren sie notwendigerweise auch Engführungen auf ihre eigenen Interessen. Es entstehen Partikularinteressen, die einander im Kampf und Ressourcen und Aufmerksamkeit widersprechen.

Organisationen erzeugen und reproduzieren sich als Organisationen, indem sie als System und in ihren Teilsystemen nach systeminternen Vorgaben (Selektionskriterien) Kommunikationen und Entscheidungen an Kommunikationen/ Entscheidungen anschließen. Dieser Reproduktionsprozess orientiert sich gleichsam an seiner eigenen historisch generierten „Melodie“. Diese bemerkenswerte Fähigkeit eines Systems, die Elemente, aus denen besteht, immer wieder selbst zu produzieren und zu reproduzieren, also in diesem Prozess immer wieder gleichermaßen Poduzent wie auch Produkt zu sein, wird als Autopoiesis bezeichnet (vgl. Varela et. al 1974)

Kommunikationen:
Ein systemtheoretisches Verständnis fasst das Phänomen der Organisation als soziales System, das aus Kommunikationen (und eben nicht aus Gebäuden, Maschinen, MitarbeiterInnen oder auch Beziehungen) besteht. Kommunikationen sind jene Elemente/ Mechanismen, welche die Vielzahl der Akteure so koppeln, dass ein koordiniertes Handlungssystem entsteht. Die Funktion von Kommunikation liegt somit in der Koordination von Akteuren mit ihren Aktionen und nicht etwa einfach im Transport von Nachrichten (Simon 2009, S.49f.) Die Interaktion/ Kopplung ist nicht auf Interaktion unter Anwesenden beschränkt. Erst durch die Interaktionen zwischen Anwesenden und Abwesenden wird es möglich, die Handlungen von vielen 100en Menschen und mehr zu koordinieren.

Entscheidungen:
Entscheidungen stellen in dieser Hinsicht lediglich einen Spezialfall der Kommunikation dar, in gewissem Sinn ihre basale Form (Willke 2013, S.63). Ihre Organisationsfunktion darin besteht, dass über sie Komplexität reduziert und diese damit handhabbar gemacht werden kann. Durch Entscheidungen verwandeln Organisationen Ungewissheit in Gewissheit. Organisationen überleben, indem sie Entscheidung an Entscheidung knüpfen, also über Entscheidungen und nicht mittels Wissens über die Zukunft! (Schumacher 2013, S.168) Dadurch erst entsteht Stabilität, als Errungenschaft, die täglich neu hergestellt werden muss.

Eine derartige Perspektive auf Organisationen verweist darauf, wie voraussetzungsreich und prekär die nachhaltige Entwicklung von Organisationen ist. Organisationen weisen keine naturgegebene Stabilität auf, im Gegenteil: Bei genauerem Hinsehen werden jede Menge für den Zusammenhalt der Organisation zentrifugal wirkender Eigendynamiken, Eigenlogiken und Widersprüche deutlich, die es zunächst einmal eher unwahrscheinlich machen, dass der Prozess des Organisierens überhaupt erfolgreich sein kann. Mit den Worten Karl Weicks:

"Wir bevorzugen eine Auffassung von Organisation, die davon ausgeht, dass Organisationen andauernd auseinanderfallen und deshalb beständig neu aufgebaut werden müssen.        
Prozesse müssen permanent neu verwirklicht werden.
Administratoren wissen das, Organisationsforscher müssen ständig daran erinnert werden.“ (Karl Weick 1995, S.67)

Stabilisierung und Zusammenhalt von Organisationen müssen im Prozess des Organisierens erst hergestellt werden....

In diesem Verständnis von Organisationen stehen Diskontinuität und permanenter Zerfall im Fokus der Aufmerksamkeit. Organisation wird weniger als materielle oder strukturelle Substanz wahrgenommen, sondern vielmehr als Gesamtheit von Prozessen, die nur deswegen bestehend bleiben können, weil verantwortliche FunktionsträgerInnen sich darum kümmern, dass diese Prozesse immer wieder auf das Neue realisiert und fortgesetzt werden.

Das mag auf den ersten Blick irgendwie klar und unspektakulär anmuten. Tatsächlich ist die Bearbeitung all dieser Widersprüche an sich schon eine enorm herausfordernde und voraussetzungsvolle Angelegenheit. Sie ist das Kerngeschäft von Führung. Führungskräften muss es zunächst einmal gelingen, die Stabilität von Prozessen überhaupt herzustellen. Sie müssen dafür sorgen, „dass die vorgegebenen Ziele nicht in Vergessenheit geraten, haben Abweichungen von bewährten Routinen anzusprechen und auch dafür zu sorgen, dass die Sachebene der Aufgabenerfüllung nicht durch die Beziehungsebene gestört wird. Kurz: sie müssen dafür sorgen, dass sich nichts ändert.“ (Bauer 2011, S.36)

Führung muss für notwendige Planung, Berechenbarkeit, Leistungsfähigkeit und damit Sicherheit sorgen. Nur durch die permanente Versorgung mit Führungsinterventionen können die Teilsysteme davon abgehalten werden, dass sie „(...) sich vom Ziel entfernen, was Neues ausprobieren, Unfug treibe, oder was auch sonst immer tun, jedenfalls nicht starr bleiben.“ (ebenda) Die Organisation braucht die Stabilisierung von erforderlichen Rahmenbedingungen, Regeln und Strukturen, um das Alltagsgeschäft erledigen zu können und den Zusammenhalt der Organisation zu gewährleisten.

....wie auch Irritation, Dynamik und Veränderung

Angesichts sich dynamisch verändernder Umwelten, Kunden und Märkte (Stichworte: „Speed of Change“, Wandel ist die Konstante) besteht für Organisationen andererseits die Notwendigkeit, möglichst frühzeitig Veränderungsprozesse einzuleiten und neue Strukturen zu implementieren bzw. existierende Abläufe und Prozesse weiter zu entwickeln. Organisationen müssen also – parallel zu Prozessen der Routinisierung, Stabilisierung und Normierung – auch Prozesse bereitstellen, die Veränderung, Dynamik, kalkulierte Unsicherheit und Irritation auslösen und damit das System mit jener Spannung versorgen, die es zur nachhaltigen und zukunftsfähigen Erfüllung seiner Aufgaben benötigt. 
In Zeiten rasanten Wandels und komplex-chaotischer Umwelten steht dabei die „Organizational Capability“ im Vordergrund in organisatorischen Alternativen und neuen Organisationsdesigns zu denken und – innerhalb des Unternehmens, aber insbesondere auch im Umgang mit KundInnen, KooperationspartnerInnen und anderen relevanten Stakeholdern – phantasievolle organisatorische Strukturen zu entwickeln.

Ein neues Leadership-Mindset: Erste Schlussfolgerungen

Ein verändertes Umfeld (Stichwort: VUKA); Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität)[2] stellt heute veränderte Anforderungen an Organisationen. Das im Rahmen der offenen Systemtheorie entwickelte konzeptionelle Verständnis von Organisationen knüpft an diesen Anforderungen an und beschreibt Organisationen als aufgabengetriebene, soziale, wissensbasierte Systeme die sich über Kommunikationen und Entscheidungen quasi autopoietisch reproduzieren.

Ein solches Organisationsverständnis kann heute auch für PraktikerInnen – also insbesondere Führungskräfte und BeraterInnen – einen hilfreichen Rahmen zur Gestaltung des eigenen Führungshandelns bieten. Folgende Punkte stehen dabei im Fokus:

In ihrer sozialen Verfasstheit verweisen Organisationen auf die Relevanz von gelingender Beziehungsgestaltung und auf den Erfolgsfaktor Kommunikation. Emotionen, ihre Bearbeitung, sowie Motivation und Energie der Mitarbeitenden geraten in den Blick und bilden ein zentrales Feld der Führungsintervention.

Der Aspekt der wissensbasiertheit öffnet den Blick für die Koppelung des Wissens von Personen mit dem in die Operationsweisen, Abläufe und Prozesse der Organisationen eingewobenen Wissen.

Der Systembegriff führt deutlich vor Augen, dass Organisationen aus einem mehr oder weniger komplexen Netzwerk interner und externer Subsysteme bestehen, die jeweils ihrer eigenen Logik und Operationsweise folgen und damit Engführungen und Partikularinteressen befördern. 
Mit dem im Systembegriff mitangelegten Konzept der Autopoiesis werden orgsanisationskonstituierende Mechanismen der Selbstorganisation sichtbar und begreifbar: Als Fähigkeit eines Systems, die Elemente aus denen es besteht immer wieder selbst zu produzieren.          
Lineares Führungshandeln im Sinne des Modells der trivialen Maschine muss daher notwendigerweise immer an die Grenzen der Selbstorganisation autopoietischer Subsysteme stoßen und dort scheitern. Oder aber -- im noch gravierenderen Fall – kann damit die Selbstorganisationsfähigkeit von (Sub-)Systemen (und somit auch ein relevantes Potenzial für die Organisation) zerstört werden.

Indem die Perspektive auf die Reproduktion von (Teil-)Systemen durch Kommunikationen gerichtet wird gerät in den Blick, ob und wie AkteurInnen und ihre Aktionen gekoppelt sind. Denn erst durch eine adäquate Koppelung von AkteurInnen und Aktionen kann ein koordiniertes Handlungssystem entstehen. Diese Koppelungen zu beobachten und bei Bedarf (wieder) herzustellen ist daher eine kritische Führungsaufgabe, die es permanent im Blick zu behalten gilt.

Organisationen können nur überleben indem sie als basale Form von Kommunikation Entscheidung an Entscheidung knüpfen, dadurch Unsicherheit in Gewissheit verwandeln und Komplexität dabei reduzieren. Aus der Perspektive von Führung weist dieser Fokus insbesondere auf Fragen der Entscheidungsvorbereitung, des Treffens von Entscheidungen und ihrer Umsetzung hin.

Die Prozesshaftigkeit, die diesem Verständnis von Organisation, quasi konstitutiv eingeschrieben ist weist darauf hin, dass sowohl Stabilität als auch Veränderung in Organisationen durch adäquate Prozesse erst hergestellt werden müssen. Aus beiden Ebenen braucht es passende Führungsarbeit und Interventionen, diese können parallel und gleichzeitig laufen und fordern die Führungskraft gerade in Form ihrer Paradoxie heraus.

 

[1] Die gesamte in diesem Beitrag im Text angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.

[2] siehe dazu auch BLOG 4