Warum Führungskräfteentwicklung so oft wirkungslos bleibt

Was Führungskräfte und Organisationen können sollten, wenn sie wirksam führen wollen (3)

In mehr und mehr Unternehmen wird Führung inzwischen als ein entscheidender Qualitäts- und Wettbewerbsfaktor gesehen. Führung ist relevant. Führungsdefizite wie mangelnde intransparente Kommunikation, Geheimniskrämerei, Misstrauen, Konfliktvermeidung, mangelnde Wertschätzung oder das Aufschieben von notwendigen Entscheidungen werden thematisiert. Führung muss daher entwickelt werden. Folgerichtig erschallt der Ruf nach Leadership Development. Das Management soll Führungskompetenzen auf sachlicher und persönlicher Ebene ausbilden. Ausbildungsprogramme werden konzipiert, Trainings werden beauftragt und die Führungskräfte werden durch Module und Seminartage durchgeschleust. Nicht selten werden dafür auch ganz beträchtliche Budgets aufgestellt.

Die Ernüchterung lässt meist nicht lange auf sich warten. Denn häufig ändert sich dadurch kaum etwas am realen Führungsverhalten, auch die entdeckten Defizite bleiben hartnäckig bestehen. Kommen die TeilnehmerInnen an Trainings-(programmen) von diesen meist hochmotiviert und voller Tatendrang zurück, so ist meist schon nach den ersten Arbeitstagen ein Verblassen der mitgebrachten Euphorie und Veränderungsideen merkbar. Bald haben sich Alltagsdynamik und Routinen wieder durchgesetzt, der Umsetzungs- und Veränderungseifer ist verflogen. Warum? War die Qualität des Trainingsprogramms schlecht? Haben die TrainerInnen nicht an die Umsetzung gedacht?

Nicht unbedingt. Vielmehr verweisen solche Trainingsergebnisse auf die Frage, wie im betroffenen Unternehmen das Lernen von Personen mit der Entwicklung der Organisation verbunden ist: Welche Vorkehrungen trifft die Organisation, um das Lernen von Personen zu prädisponieren und zu verankern?

Denn zunächst ist keineswegs a priori gewährleistet, daß MitarbeiterInnen und Führungskräfte in Qualifizierungen und Trainings überhaupt lernen. Wenn etwa die Grundmotivation im Voraus nicht passt, weil das Training verordnet wurde oder die gebotenen Lerninhalte bei den MitarbeiterInnen nicht anschlussfähig sind, dann kann es vorkommen, dass ganze Teams zwei Trainingstage einfach aussitzen. Aber selbst wenn die TeilnehmerInnen fest davon überzeugt sind, gelernt zu haben, heißt das noch nicht, dass sie im Sinn der Organisation gelernt haben.

Im Rahmen meiner Forschungs- und Beratungstätigkeit kam mir in unterschiedlichen Varianten immer wieder folgender prototypische Fall unter: Ein Teil des mittleren Managementteams in einem Dienstleistungsbetrieb kommt voll Dynamik und Tatendrang von einem Innovations- und Kreativworkshop zurück. Die Euphorie hält jedoch nur kurz an, einige Wochen später ist der „Geist“ des Innovationsseminars völlig verflogen und ´business as usual´ eingekehrt. Die SeminarteilnehmerInnen sind zum sogar Teil frustriert. Zu deutlich sind sie mit ihrer am Seminar entwickelten Veränderungsenergie an die Grenzen einer lange etablierten Organisationskultur gestoßen, in der Fehlervermeidung ein ganz zentraler Wert ist. In einem solchen Umfeld werden die in einem Innovationsseminar wachgerufenen Geister schlicht als massive Bedrohung erlebt und abgestoßen. Überall wird hervorgekehrt „warum etwas nicht geht.“ Die Organisation ist schlicht nicht eingestellt auf eine neue Form der Wissens- und Kompetenzbildung, sie ist daher dafür auch nicht anschlussfähig. Ed Schein schreibt dazu:

„In der Tat kann das individuelle Lernen zur Gefahr werden, wenn das Wertesystem und die Kultur der Organisation dem Einzelnen nicht genügend Handlungsspielraum lassen. In solchen Fällen ist es für Unternehmen einfach nicht möglich, die individuelle Kreativität zu fördern.“ (Schein 2002, S.21)

Im besten Fall führen Schulungen dann zu Minimalergebnissen im ureigensten Arbeitsbereich (dort wo ich Veränderungen mit niemandem abstimmen muss), die Organisation wird aber kaum sichbar davon profitieren.

Im schlimmeren Fall führt die bestehende Diskrepanz zwischen durch Schulung entwickelten MitarbeiterInnen und sich nicht mitentwickelnden Organisationen zu Demotivation, Frustration und Burn-Out, sofern die MitarbeiterInnen nicht vorher die Organisation verlassen. Je besser, qualitativ hochwertiger und lerneffektiver die Schulung hier war, desto gefährlicher sind die Konsequenzen für MitarbeiterInnen und Organisation. Hochmotivierte veränderungsbereite MitarbeiterInnen prallen dann ungebremst an die gläsernen aber rigiden Mauern der Organisation, die diese Mauern sogar eher verstärken wird, weil sie sich von so viel uneinschätzbarer Veränderungsenergie bedroht fühlt.

Für eine Organisation werden nur jene Kommunikationen von MitarbeiterInnen oder Führungskräften relevant, welche sie nach ihren eigenen Wahrnehmungsmustern als entscheidungsrelevant (an)erkennt (Wolf & Hilse 2009, S.129). Wenn hier die Differenz zwischen den durch Training veränderten Kommunikationen der Individuen und den etablierten Wahrnehmungsmustern der Organisation zu groß oder zu unaufweichlich ist, dann ist das neue Wissen in der Organisation nicht anschlussfähig. Die Organisation lernt ja nicht über Bewusstsein, sondern über die Veränderung ihrer Kommunikations- und Handlungsstrukturen. Nur wenn die Organisation in ihren Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen für das neu erlernte Managementverhalten anschlussfähig ist kann dieses auch integriert werden.

An der Schnittstelle von Personal- und Organisationsentwicklung stellt sich daher aus einer Perspektive von nachhaltigem Lernen und nachhaltiger Entwicklung folgende Leitfrage: Welche Vorkehrungen können Organisationen treffen, um das Lernen von Personen zu pädisponieren und zu verankern? Diese Frage werden wir im nächsten Blog aufgreifen.

Distributed Leadership oder das Ende der einsamen Helden

Leadership im Umbruch (6)

Ich habe in den letzten Blogbeiträgen versucht, die Grundlagen von Führung vor dem Hintergrund einer systemischen Perspektive auf Organisationen und mit Blick auf das turbulente und komplexe Umfeld, in dem Organisationen gegenwärtig agieren müssen, heraus zu arbeiten.

In den nächsten drei Beiträgen werde ich spezielle Herausforderungen aufgreifen, welche für Führung darüber in speziellen Kontexten entstehen und gleichzeitig auch Orientierung bieten, in welche Richtung Führung sich künftig entwickeln kann.

Im Organisationskontext ist dies zunächst die Tendenz zu geteilter Führung. Distributed Leadership greift Organisationsveränderungen wie Verflachung der Hierarchien, gestiegene Flexibilitätserfordernisse und das Auflösen organisationaler Grenzen auf und begreift Führung als emergente Fähigkeit einer Gruppe oder eines Netzwerks von miteinander interagierenden Personen mit geteilten und wechselnden Führungsfunktionen.

Im Feld der Hirnforschung und der Neurobiologie sind das neue Erkenntnisse die unter dem Label „Neuroleadership“ verdeutlichen, dass Führung nur dann nachhaltig erfolgreich ist, wenn es ihr gelingt, die Emotionen und Bedürfnissen der Mitarbeitenden zu erreichen und Motivation und Sinn zu erzeugen; vorwiegend durch eine Haltung des Einladens, Ermutigens und Inspirierens.

Im Kontext der kritischen Managementforschung werden die gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenerscheinungen mit einer Krise des Managements und der Führung in Verbindung gebracht. Der Diskurs rund um Responsible Leadership fokussiert auf wertorientierte und normative Herausforderungen von Führung im Kontext von vielfältigen Stakeholder-Interessen. Die Organisationen und ihre Umwelten (MitarbeiterInnen, Wissen, Märkte, Shareholder, AkteurInnen der Zivilgesellschaft, KundInnen) werden als Überlebenseinheit gedacht.  Dies erfordert eine aktive Auseinandersetzung der Unternehmen mit ihren Umwelten und in der Folge ein vitales Miteinander als Überlebens- und erfolgssichernde Maßnahme.

In diesem Beitrag steht vorerst Distributed Leadership im Brennpunkt.

Veränderte Führungsanforderungen

Im neuen turbulenten und komplexen Wirtschaftskontext mit den Tendenzen zur Auflösung von Hierarchien, zu Netzwerken und zum Auflösen von organisationalen Grenzen müssen Organisationen auch Entscheidungs- wie operative Führungskompetenzen mehr an die Grenzzonen der Organisation verlagern: Also zu jenen Kräften, die tatsächlich mit Kunden und anderen Stakeholdern in Kontakt sind.

Für Spitzenführungskräfte bedeutet das eine massive Herausforderung: Zum einen Teil gilt es hier am eigenen Selbstverständnis zu arbeiten, denn die Zeiten des Heldentums, also einzelner erfolgreicher und übermächtig erscheinender Unternehmenskapitäne sind damit passé. Zum anderen Teil gilt es für das Top-Management insbesondere auch zu lernen, die operative Kontrolle loszulassen, seine Führungsrolle auf die strategischen Agenden hin zu fokussieren und auch tatsächlich wahrzunehmen. Und es wird zu ihrer Kernaufgabe, die Organisationsarchitektur so zu (mit-)zugestalten, dass neue Notwendigkeiten wie Entrepreneurship und bereichs- und organisationsübergreifende Kooperation in die Organisationsstruktur und –kultur eingewoben werden (vgl. Deiser 2010).

Auch das mittlere Management muss sich verändern: Es wird unternehmerischer agieren müssen, eigene Entscheidungen zu treffen haben und immer öfter auch im Geist einer verantwortlich gebundenen Teilautonomie in Vorlage gehen müssen.

Und nicht zuletzt müssen auch die MitarbeiterInnen ihren Teil an Eigeninitiative und unternehmerischem Handeln übernehmen, etwa im dienstleistungsorientierten Umgang mit Beschwerden von KundInnen und im Qualitätsmanagement.

Es braucht ein Mehr an Führung und Management in der gesamten Organisation

Die damit entstehenden neuen Organisationsformen werden zwar in aller Regel durch flachere Hierarchien gekennzeichnet sein, sie brauchen jedoch gleichzeitig ein Mehr an Management und Führung. Immer mehr Positionen/ Funktionen/ Rollen werden durch Anforderungen gekennzeichnet sein, wie Strategien in konkrete Prozesse übersetzen zu müssen, neue Arbeitsstrukturen zu erfinden oder temporär Teams leiten zu müssen.

Malik (2006, S.64ff.) stellte in diesem Zusammenhang schon vor Jahren fest, dass insbesondere in den modernen Wissens- und Dienstleistungssektoren (Computer, Informatik, Engineering, Bio-Branche, Beratung, Finanzdienstleistungen, Wissenschaft, Kunst und Kultur) der Anteil und auch Bedarf an Führungskräften mittlerweile bei 20 bis 25 Prozent liegt und damit in etwa vier bis fünf Mal so hoch ist, wie in der klassischen Industrie. Und prognostizierte für die Zukunft:

„Es wird viel mehr De-facto-Manager geben, wenn auch unter bisher noch gar nicht bekannten und vermutlich sehr bunten Bezeichnungen, und ihre Aufgaben werden schwieriger sein als heute.“ (Malik 2006, S.67)

Es dürfte dabei aber – wie folgende Schlussfolgerung aus einem großen Organisationsentwicklungsprozess in einer großen Klinik zeigt – nicht bloß um Führung als quantitative Komponente gehen. Vielmehr geht es darum, daß Kompetenzen von Management und Leadership zunehmend zum fixen und notwendigen Qualitätsbestandteil von immer mehr Jobs, Funktionen und Rollen in Unternehmen werden. Kompetenzen und Erfordernisse von Leadership und Führung werden tendenziell zum Bestandteil jedes Jobprofils.

„Um eine Excellenz in der Behandlung zu erreichen, braucht es aber einen zusätzlichen Baustein: Leadership. Leadership ist aber nicht als reine Managementaufgabe zu verstehen, sondern als Identifikation jedes Einzelnen mit dem Behandlungsprozess. Leadership beinhaltet die Übernahme der Verantwortung für die eigenen Handlungen im Kontext des gesamten Prozesses und die fachliche Kompetenz, Entscheidungen zu treffen, Zuständigkeiten einzuschätzen sowie die kommunikative Kompetenz, Entscheidungen dem Patienten oder Mitgliedern der therapeutischen Teams mitzuteilen.“ (Knoth et al. 2012, S.66)

Distributed Leadership und Konsequenzen für das „Leadership Development“

In der Management- und Führungsforschung wird in diesem Zusammenhang seit einigen Jahren von ´distributed leadership´ gesprochen (Bolden 2007; Bennet et al. 2003; Spillane et al. 2004).

Vor diesem Hintergrund wird Leadership weniger im Kontext der Funktionen, Rollen, Aktionen oder auch des Einflusses einzelner Führungspersonen gesehen. Sondern eher als „recognised as integral to the overall direction and functioning of the organisation.“ Der Blick geht weg von einzelnen Abteilungen und Organisationseinheiten hin zum Ganzen und zum Verstehen der Zusammenhänge. Der Fokus dieser neuen Perspektive liegt auf den im organisationalen Kontext geteilten Funktionen und Aktivitäten von Leadership und nicht mehr auf den Charakterzügen und Wesensmerkmalen von Führungspersonen. Die Begründung der Tendenz zum ´distributed leadership´ knüpft an drei Prämissen/ Voraussetzungen an:

  • Leadership als eine emergente Fähigkeit einer Gruppe oder eines Netzwerks von miteinander interagierenden Personen. Das Zusammenspiel von Rollen und Funktionen ist dabei ein wechselseitiges. Es ändert sich fließend und je nach Erfordernissen die durch ein Projekt, eine Aufgabe oder Ziel gestellt werden (zB. abwechselnde Projektleitung und Mitarbeit)
  • Offenheit hinsichtlich der Grenzen von Leadership, das sowohl in der Organisation, als auch zunehmend über die Grenzen der Organisation hinaus wirksam sein muss (denn gerade dort wird Steuerung im Sinne der Kontext-Ko-Gestaltung erforderlich)
  • Und drittens sind die vielfältigen und komplexen Kompetenzen und Wissensformen, welche für die neuen Produktions- und Dienstleistungsprozesse erforderlich sind  „distributed across the many, not the few.“

Es geht demnach weniger um ´Leader Development“ -- als klassische Investition in Humankapital um interpersonelle und individuelle Kompetenzen auserwählter ´High Potentials´ zu entwickeln -- als tatsächlich vielmehr um „Leadership Development“. In diesem Verständnis spielt die Bildung individueller Kompetenzen zwar auch eine Rolle, ebenso wichtig – und bislang ausgeblendet -- sind allerdings Maßnahmen zur Bildung von „social capital to develop interpersonal networks and cooperation within organisations and other social systems.“ (Bolden 2007). Leadership verlangt hier in die Prozesse und Strukturen der Organisation eingewoben zu werden. Es muss integriert sein, in Prozesse der Wissensvermittung, der Innovation und der strategischen Auseinandersetzung.

„Whilst the majority of investment continues to be for individuals in formal leadership roles, a distributed perspective would argue for the development of leadership capacity throughout the organisation.“ (Bolden 2007)

Leadership als Capacity der gesamten Organisation wirft Fragen auf nach der Verankerung von Werten, strategischen Ausrichtungen und gemeinsamen Zielen. Denn eine der Schlüsselfragen lautet ja: Wie kommt es in der geteilten Führung zu gemeinsamer Ausrichtung, Koordination und Wirkung von Führung? Nut wenn es gelingt mittels eines möglichst gemeinsam entwickelten aber jedenfalls getragenen Rahmens aus Werten, Strategien und Zielen den nunmehr vielen Führenden Orientierung in ihrem Führungshandeln zu geben, nur dann kann geteilte Führung eine gemeinsame Kraft und Ausrichtung finden und wirksam sein.

Den Vesuv wahrnehmen, zum Thema machen und entscheiden

Was Führungskräfte und Organisationen heute lernen müssen, wenn sie überleben wollen

"Die Stadt lag malerisch an der Mündung des Sarno. Über viele Jahrhunderte hatte sie als einer der sichersten Häfen der Welt gegolten. Direkt am Meer, auf einem Plateau, die vorgelagerten Lagunen schützen sie gegen die raue See. Denn von dort – wenn überhaupt – drohe die Gefahr, dachte alle Welt damals.

Der Name der Stadt: Pompeji." (1)

Zweifellos hatten die Bürger und Bürgerinnen den 10 Kilometer entfernten Vesuv immer schon gesehen. Er hatte immer wieder einmal geraucht und Feuer gespuckt. Rund 15 Jahre vor dem Vulkanausbruch erschütterte dann auch ein mittelschweres Erdbeben die Region. Doch sollte das wirklich eine nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung der Stadt haben? 

Im gegenwärtigen dynamischen und komplexen Wirtschaftskontext ist diese Situation allgegenwärtig. Viele Führungskräfte und MitarbeiterInnen sehen die Krise in ihrer Organisation kommen. Sie reißen dennoch nicht das Steuer herum, sondern blenden aus, sind konsterniert oder versuchen durchzutauchen. Bis wirklich Feuer am Dach ist.

Was sind die Leitmechanismen dieser scheinbaren Ignoranz? Warum nehmen Führungskräfte ihre Verantwortung nicht adäquat wahr? Welche Organisationsmuster sind hier wirksam? Und wo ist anzusetzen, wenn man gegensteuern will?

Sehr erhellend zum Verstehen dieser Mechanismen ist folgende Passage aus einem Interview, das ich im November 2010 mit einer ehemaligen Bankmanagerin – einer Abteilungsleiterin für innovative Finanzprodukte – geführt habe. Sie beschreibt, wie ihre gesamte Organisation an den Rand des Abgrunds schlitterte.

„ Ab 2003/ 2004 habe ich gesehen, dass sich da was nicht ausgehen kann, dass das Risiko völlig davon galoppiert, aber ich konnte das nicht zum Thema machen (…). Ein Raum hätte sein müssen, oder das Herstellen von Räumen, in denen Kritik möglich ist und in denen auch die konstruktive Wendung von Kritik möglich ist (…) es hätten Räume sein müssen in denen Kritik gefordert ist, in denen man aufgefordert ist, Kritik zu äußern. (…) Natürlich hätte das zu wahnsinnigen Schwierigkeiten geführt, gruppendynamisch und zwischen den Personen…(…)  Die Kritik an einem Geschäft wird da immer zur Kritik an einer Person und zur Kritik an der Organisation. Man kann keine sachliche Kritik an einem Geschäft üben. (….) Das eigene Positionieren bringt Gefahren mit sich (…) nämlich, daß man sozusagen von dieser Person auch dann die Retourkutsche bekommt, die dann von der Kritik betroffen ist und daß man sich überhaupt in fremde Gehege einmischt. (…) Und oft fehlt bei der eigenen Arbeitsbelastung einfach die Energie, um in die emotionale und fachliche Konfrontation zu gehen…(…)…

Zusätzlich zu den Räumen, wo es darum geht Kritik zu äußern, bräuchte es auch Räume der Zusammenschau. Wenn nämlich die Menschen einzeln so belastet sind mit ihren Projekten und in ihren Projekten gefangen, dann hat da immer eine Zusammenschau gefehlt, die alle miteinander bewegt und wo da unter Umständen ähnliche Probleme oder sich wechselseitig aufschaukelnde Probleme vorhanden sind (…) Was das Agieren auf den Finanzmärkten so schwierig gemacht hat, seit Ende der 1990er Jahre für Organisationen, war auf der gesellschaftspolitischen Ebene das Durchsetzen dieser Mind Settings, erst 15 % Return on Investment, dann 25 % Return on Investment von diesen Mind Settern und daß auch völlig unplausibel war, wie man auf diese Zahlen denn gekommen wäre. Niemand hätte erklären können, warum es 15 % sein sollten oder 25 %. (Interview 9, 17. November 2010).

Unternehmen und Führungskräfte sind in ihrem Denken und Handeln offenbar in gewissen Erfolgsbahnen verhaftet. Wie bei einem Autorennen ist der Blick nach vorne auf die Fahrbahn und auf die anderen Autos gerichtet. Auch zu Recht: Der Wettbewerb ist scharf und ein Unfall könnte schließlich lebensgefährlich sein, für den/die einzelne/n Mitarbeiter/in und für die Organisation als Gesamtes.
Gleichzeitig werden relevante Veränderungen jenseits der Fahrbahn nicht mehr wahrgenommen: Änderungen, die in der Zukunft wichtig werden und zum ´Motorschaden´ führen könnten: im Bereich entstehender und wegbrechender Märkte, relevanter technologischer Veränderungen oder eigener Geschäftsabläufe.

Was brauchen Organisationen, um ihre Wahrnehmungsfähigkeit für sensible Signale in den relevanten Umwelten zu stärken und gleichzeitig dazu die erfolgreiche Bearbeitung des Kerngeschäfts fort zu setzen? Was kann Führung dafür tun?

Aus meiner Sicht sind hier drei Ebenen von Bedeutung:

a) die Kompetenzentwicklung der Führungskräfte
b) die Kommunikationsstrukturen der Organisation
c) die Einbindung der Mitarbeitenden in ihrer gesamten Persönlichkeit  

Wahrnehmen, zum Thema machen, in einen Klärungsprozess bringen: Schlüsselkompetenzen für Führungskräfte

Führungskräfte müssen zunehmend die Kompetenz ausbilden - parallel zum sicheren Befahren der eigenen Fahrbahn – Wahrnehmungsfähigkeit für relevante Signale abseits der eigenen Fahrbahn zu entwickeln, diese Signale aufzugreifen, zu reflektieren, zu besprechen und in einen Klärungs- und Entscheidungsprozess zu bringen. In der angloamerikanischen Managementdiskussion wird dazu derzeit der Begriff der ´ambidexterity´ (wörtlich: Beidhändigkeit) diskutiert: als Fähigkeit in komplexen Veränderungssituationen das Komplementäre immer mit zu denken und mit zu kommunzieren. Beide Kompetenzebenen sind hier gleichermaßen relevant: die Ebene des Mitdenkens und Wahrnehmens und die Ebene des Thematisierens und Kommunizierens.

Dazu braucht es eigene Lernformate und Lernsettings innerhalb und außerhalb des Betriebs. Und eine Form des Lernens, die an der eigenen Praxis anknüpft, auf Austausch im Führungsteam, mit MitarbeiterInnen und Stakeholdern setzt und die sich auch notwendige Irritationen und Impulse organisiert, um über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken. Zum Beispiel durch ein Gespräch mit einem Extremkletterer über seinen Umgang mit Angst und seine Entscheidungsstrategien in kritischen Situationen, durch eine Diskussion mit ArchitektInnen über ihre Form Identität auszudrücken oder durch einen gemeisamen Workshop mit einer Musikerin, in dem gemeinsam die Kombination von Komposition und Improvisation in der Darbietung eines Musikstücks nachvollzogen wird.

Räume der Reflexion, der Kritik und der Zusammenschau: Herausforderungen für die Organisationsgestaltung

In der Hektik und Dynamik des Alltagsgeschäfts haben Reflexion und Lernen oft wenig Platz. Im alltäglichen "Autorennen" herrschen meist die Logiken von Dringlichkeit, Reagieren und Abarbeiten vor. 

Die Herstellung von abgegrenzten Räumen der Vernetzung, des Feedbacks und der Zusammenschau. Von Räumen der gemeinsamen Analyse, Reflexion und Entscheidungsvorbereitung wird daher zur Schlüsselherausforderung von Organisationen. Und es ist die Verantwortung von Führungskräften, für die Herstellung solcher Räume zu sorgen.

  • Räume des Dialogs und des Lernens, welche auch in die Lage versetzen, existierende kognitive Landkarten zu erschüttern und eine Sensitivität für künftige Herausforderungen und Veränderungsnotwendigkeiten entstehen zu lassen.
  • Räume, welche die Entfaltung von Potentialen stimulieren, zB. durch die maßgeschneiderte Abfolge von dialogischem Austausch, externen Perspektiven, inspirierenden Fragestellungen, Gruppenübungen und Probehandeln.
  • Räume, welche aus dem Abarbeiten und Reagieren immer wieder auch ein bewusstes Handeln und Gestalten von Zukunft machen.

Einbindung der Mitarbeitenden in ihrer gesamten Persönlichkeit: Schlüsselaufgabe für die Personalentwicklung 

In den traditionellen fordistisch-tayloristischen Organisationsverhältnissen der 1950er bis 1980er Jahre ist es darum gegangen, die MitarbeiterInnen in genau definierten Leistungsdimensionen gezielt zu funktionalisieren. Und Aspekte der Persönlichkeit so weit wie möglich aus dem Organisationsgeschehen raus zu halten.

Vor dem Hintergrund der heutigen unsicheren, volatilen und dynamischen Organisationsverhältnisse gilt immer mehr das Gegenteil. Die heutigen Organisationen sind in einer ganz neuen Form vom geschickten engagierten Mittun und der persönlichen Qualität ihrer MitarbeiterInnen abhängig. Gerade eben davon, was die Mitarbeitenden an personennahen Begabungspotentialen und Wahrnehmungsmöglichkeiten mit in die Organisation einbringen und dadurch die Organisation stimulieren. MitarbeiterInnen, die

  • in der Lage sind, immer wieder aus eigenem Antrieb heraus an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu gehen 
  • die fähig sind, ihre eigene Rolle entsprechend den jeweils aktuellen Organisationserfordernissen und Organisationsveränderungen dynamisch mit zu entwickeln ohne dafür exakte Vorgaben "von Oben" zu brauchen
  • die sich in den vielfältigen und oft auch von Konflikten geprägten Netzwerken einer Organsation gut bewegen können
  • die eine Sensitivität für Ungewöhnliches und Außergewöhnliches haben und diese Wahrnehmungen in Entscheidungsprozessen auch zur Verfügung stellen (2)

Die organisationale Einbindung dieser neuen Art von Mitarbeitenden mit ihren besonderen Fähigkeiten und daher auch ihren besonderen Bedürfnissen stellt die HR-Abteilungen vor neue Aufgaben, mit Unterschieden umzugehen und diese personennahen Potentiale im Spannungsfeld ihrer Individualität und der Notwendigkeit einer gemeinsamen Ausrichtung zu entwickeln. Hier braucht es maßgeschneiderte Entwicklungsprogramme, die den Organisationserfordernissen und den persönlichen Entwicklungsbedarfen Rechnung tragen.

Gelingt es Organisationen auf diesen drei Ebenen die passenden Schritte zu setzen, dann wird die Wahrscheinlichkeit doch beträchtlich größer, daß eine permanente vorausschauende Selbsterneuerung nicht zur großen Krise führt. Denn: Angekündigte Krisen finden bekanntlich nicht statt.

(1) aus: Die Zeit, Nr.44, 27.Oktober 2011, S.43
(2) siehe dazu auch: Wimmer, R. (2009), Systemische Organisationsberatung - Organisationsverständnis und künftige Herausforderungen, in: Pühl, H,: Handbuch Supervision und Organisationsentwicklung, S.213-230.