Januar 2013

Den Vesuv wahrnehmen, zum Thema machen und entscheiden

von Kurt Mayer (Kommentare: 0)

Was Führungskräfte und Organisationen heute lernen müssen, wenn sie überleben wollen

"Die Stadt lag malerisch an der Mündung des Sarno. Über viele Jahrhunderte hatte sie als einer der sichersten Häfen der Welt gegolten. Direkt am Meer, auf einem Plateau, die vorgelagerten Lagunen schützen sie gegen die raue See. Denn von dort – wenn überhaupt – drohe die Gefahr, dachte alle Welt damals.

Der Name der Stadt: Pompeji." (1)

Zweifellos hatten die Bürger und Bürgerinnen den 10 Kilometer entfernten Vesuv immer schon gesehen. Er hatte immer wieder einmal geraucht und Feuer gespuckt. Rund 15 Jahre vor dem Vulkanausbruch erschütterte dann auch ein mittelschweres Erdbeben die Region. Doch sollte das wirklich eine nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung der Stadt haben? 

Im gegenwärtigen dynamischen und komplexen Wirtschaftskontext ist diese Situation allgegenwärtig. Viele Führungskräfte und MitarbeiterInnen sehen die Krise in ihrer Organisation kommen. Sie reißen dennoch nicht das Steuer herum, sondern blenden aus, sind konsterniert oder versuchen durchzutauchen. Bis wirklich Feuer am Dach ist.

Was sind die Leitmechanismen dieser scheinbaren Ignoranz? Warum nehmen Führungskräfte ihre Verantwortung nicht adäquat wahr? Welche Organisationsmuster sind hier wirksam? Und wo ist anzusetzen, wenn man gegensteuern will?

Sehr erhellend zum Verstehen dieser Mechanismen ist folgende Passage aus einem Interview, das ich im November 2010 mit einer ehemaligen Bankmanagerin – einer Abteilungsleiterin für innovative Finanzprodukte – geführt habe. Sie beschreibt, wie ihre gesamte Organisation an den Rand des Abgrunds schlitterte.

„ Ab 2003/ 2004 habe ich gesehen, dass sich da was nicht ausgehen kann, dass das Risiko völlig davon galoppiert, aber ich konnte das nicht zum Thema machen (…). Ein Raum hätte sein müssen, oder das Herstellen von Räumen, in denen Kritik möglich ist und in denen auch die konstruktive Wendung von Kritik möglich ist (…) es hätten Räume sein müssen in denen Kritik gefordert ist, in denen man aufgefordert ist, Kritik zu äußern. (…) Natürlich hätte das zu wahnsinnigen Schwierigkeiten geführt, gruppendynamisch und zwischen den Personen…(…)  Die Kritik an einem Geschäft wird da immer zur Kritik an einer Person und zur Kritik an der Organisation. Man kann keine sachliche Kritik an einem Geschäft üben. (….) Das eigene Positionieren bringt Gefahren mit sich (…) nämlich, daß man sozusagen von dieser Person auch dann die Retourkutsche bekommt, die dann von der Kritik betroffen ist und daß man sich überhaupt in fremde Gehege einmischt. (…) Und oft fehlt bei der eigenen Arbeitsbelastung einfach die Energie, um in die emotionale und fachliche Konfrontation zu gehen…(…)…

Zusätzlich zu den Räumen, wo es darum geht Kritik zu äußern, bräuchte es auch Räume der Zusammenschau. Wenn nämlich die Menschen einzeln so belastet sind mit ihren Projekten und in ihren Projekten gefangen, dann hat da immer eine Zusammenschau gefehlt, die alle miteinander bewegt und wo da unter Umständen ähnliche Probleme oder sich wechselseitig aufschaukelnde Probleme vorhanden sind (…) Was das Agieren auf den Finanzmärkten so schwierig gemacht hat, seit Ende der 1990er Jahre für Organisationen, war auf der gesellschaftspolitischen Ebene das Durchsetzen dieser Mind Settings, erst 15 % Return on Investment, dann 25 % Return on Investment von diesen Mind Settern und daß auch völlig unplausibel war, wie man auf diese Zahlen denn gekommen wäre. Niemand hätte erklären können, warum es 15 % sein sollten oder 25 %. (Interview 9, 17. November 2010).

Unternehmen und Führungskräfte sind in ihrem Denken und Handeln offenbar in gewissen Erfolgsbahnen verhaftet. Wie bei einem Autorennen ist der Blick nach vorne auf die Fahrbahn und auf die anderen Autos gerichtet. Auch zu Recht: Der Wettbewerb ist scharf und ein Unfall könnte schließlich lebensgefährlich sein, für den/die einzelne/n Mitarbeiter/in und für die Organisation als Gesamtes.
Gleichzeitig werden relevante Veränderungen jenseits der Fahrbahn nicht mehr wahrgenommen: Änderungen, die in der Zukunft wichtig werden und zum ´Motorschaden´ führen könnten: im Bereich entstehender und wegbrechender Märkte, relevanter technologischer Veränderungen oder eigener Geschäftsabläufe.

Was brauchen Organisationen, um ihre Wahrnehmungsfähigkeit für sensible Signale in den relevanten Umwelten zu stärken und gleichzeitig dazu die erfolgreiche Bearbeitung des Kerngeschäfts fort zu setzen? Was kann Führung dafür tun?

Aus meiner Sicht sind hier drei Ebenen von Bedeutung:

a) die Kompetenzentwicklung der Führungskräfte
b) die Kommunikationsstrukturen der Organisation
c) die Einbindung der Mitarbeitenden in ihrer gesamten Persönlichkeit  

Wahrnehmen, zum Thema machen, in einen Klärungsprozess bringen: Schlüsselkompetenzen für Führungskräfte

Führungskräfte müssen zunehmend die Kompetenz ausbilden - parallel zum sicheren Befahren der eigenen Fahrbahn – Wahrnehmungsfähigkeit für relevante Signale abseits der eigenen Fahrbahn zu entwickeln, diese Signale aufzugreifen, zu reflektieren, zu besprechen und in einen Klärungs- und Entscheidungsprozess zu bringen. In der angloamerikanischen Managementdiskussion wird dazu derzeit der Begriff der ´ambidexterity´ (wörtlich: Beidhändigkeit) diskutiert: als Fähigkeit in komplexen Veränderungssituationen das Komplementäre immer mit zu denken und mit zu kommunzieren. Beide Kompetenzebenen sind hier gleichermaßen relevant: die Ebene des Mitdenkens und Wahrnehmens und die Ebene des Thematisierens und Kommunizierens.

Dazu braucht es eigene Lernformate und Lernsettings innerhalb und außerhalb des Betriebs. Und eine Form des Lernens, die an der eigenen Praxis anknüpft, auf Austausch im Führungsteam, mit MitarbeiterInnen und Stakeholdern setzt und die sich auch notwendige Irritationen und Impulse organisiert, um über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken. Zum Beispiel durch ein Gespräch mit einem Extremkletterer über seinen Umgang mit Angst und seine Entscheidungsstrategien in kritischen Situationen, durch eine Diskussion mit ArchitektInnen über ihre Form Identität auszudrücken oder durch einen gemeisamen Workshop mit einer Musikerin, in dem gemeinsam die Kombination von Komposition und Improvisation in der Darbietung eines Musikstücks nachvollzogen wird.

Räume der Reflexion, der Kritik und der Zusammenschau: Herausforderungen für die Organisationsgestaltung

In der Hektik und Dynamik des Alltagsgeschäfts haben Reflexion und Lernen oft wenig Platz. Im alltäglichen "Autorennen" herrschen meist die Logiken von Dringlichkeit, Reagieren und Abarbeiten vor. 

Die Herstellung von abgegrenzten Räumen der Vernetzung, des Feedbacks und der Zusammenschau. Von Räumen der gemeinsamen Analyse, Reflexion und Entscheidungsvorbereitung wird daher zur Schlüsselherausforderung von Organisationen. Und es ist die Verantwortung von Führungskräften, für die Herstellung solcher Räume zu sorgen.

  • Räume des Dialogs und des Lernens, welche auch in die Lage versetzen, existierende kognitive Landkarten zu erschüttern und eine Sensitivität für künftige Herausforderungen und Veränderungsnotwendigkeiten entstehen zu lassen.
  • Räume, welche die Entfaltung von Potentialen stimulieren, zB. durch die maßgeschneiderte Abfolge von dialogischem Austausch, externen Perspektiven, inspirierenden Fragestellungen, Gruppenübungen und Probehandeln.
  • Räume, welche aus dem Abarbeiten und Reagieren immer wieder auch ein bewusstes Handeln und Gestalten von Zukunft machen.

Einbindung der Mitarbeitenden in ihrer gesamten Persönlichkeit: Schlüsselaufgabe für die Personalentwicklung 

In den traditionellen fordistisch-tayloristischen Organisationsverhältnissen der 1950er bis 1980er Jahre ist es darum gegangen, die MitarbeiterInnen in genau definierten Leistungsdimensionen gezielt zu funktionalisieren. Und Aspekte der Persönlichkeit so weit wie möglich aus dem Organisationsgeschehen raus zu halten.

Vor dem Hintergrund der heutigen unsicheren, volatilen und dynamischen Organisationsverhältnisse gilt immer mehr das Gegenteil. Die heutigen Organisationen sind in einer ganz neuen Form vom geschickten engagierten Mittun und der persönlichen Qualität ihrer MitarbeiterInnen abhängig. Gerade eben davon, was die Mitarbeitenden an personennahen Begabungspotentialen und Wahrnehmungsmöglichkeiten mit in die Organisation einbringen und dadurch die Organisation stimulieren. MitarbeiterInnen, die

  • in der Lage sind, immer wieder aus eigenem Antrieb heraus an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu gehen 
  • die fähig sind, ihre eigene Rolle entsprechend den jeweils aktuellen Organisationserfordernissen und Organisationsveränderungen dynamisch mit zu entwickeln ohne dafür exakte Vorgaben "von Oben" zu brauchen
  • die sich in den vielfältigen und oft auch von Konflikten geprägten Netzwerken einer Organsation gut bewegen können
  • die eine Sensitivität für Ungewöhnliches und Außergewöhnliches haben und diese Wahrnehmungen in Entscheidungsprozessen auch zur Verfügung stellen (2)

Die organisationale Einbindung dieser neuen Art von Mitarbeitenden mit ihren besonderen Fähigkeiten und daher auch ihren besonderen Bedürfnissen stellt die HR-Abteilungen vor neue Aufgaben, mit Unterschieden umzugehen und diese personennahen Potentiale im Spannungsfeld ihrer Individualität und der Notwendigkeit einer gemeinsamen Ausrichtung zu entwickeln. Hier braucht es maßgeschneiderte Entwicklungsprogramme, die den Organisationserfordernissen und den persönlichen Entwicklungsbedarfen Rechnung tragen.

Gelingt es Organisationen auf diesen drei Ebenen die passenden Schritte zu setzen, dann wird die Wahrscheinlichkeit doch beträchtlich größer, daß eine permanente vorausschauende Selbsterneuerung nicht zur großen Krise führt. Denn: Angekündigte Krisen finden bekanntlich nicht statt.

(1) aus: Die Zeit, Nr.44, 27.Oktober 2011, S.43
(2) siehe dazu auch: Wimmer, R. (2009), Systemische Organisationsberatung - Organisationsverständnis und künftige Herausforderungen, in: Pühl, H,: Handbuch Supervision und Organisationsentwicklung, S.213-230.