September 2013

....und dann auch noch Nichts als Paradoxien

von Kurt Mayer (Kommentare: 0)

Leadership im Umbruch (4)

ZEIT: Ist Deutschland seiner Größe wegen gewachsen?[1]

Fischer: Als Außenminister kam ich eines Tages zu meiner Freundin Madeleine Albright und habe gejammert: ´Es ist furchtbar. Was wir tun ist falsch. Engagieren wir uns, werden wir kritisiert. Engagieren wir uns nicht, werden wir auch kritisiert.´   
Da brach sie in schallendes Gelächter aus und sagte: "Ach, Joschka, das ist der Widerspruch von Führung. Amerika erlebt das täglich." Recht hat sie. Wir müssen lernen mit diesen Widersprüchen umzugehen.“

Vor dem Hintergrund des im letzten Beitrag (Blogbeitrag 5) entwickelten Organisationsverständnisses sind Aufgabe und Prozess von Führung offenbar durch eine grundlegende Paradoxie gekennzeichnet: Einerseits geht es darum, die Organisation mit Führungsinterventionen versorgen zu müssen, welche zu planbaren, berechenbaren und leistungsfähigen Prozessen führen und den Prozess des Organisierens erst ermöglichen und sicheren.        
Gleichzeitig gilt es aber auch, solche Interventionen zu setzen und Prozesse anzustoßen, welche Irritation, Veränderung und Dynamik auslösen und gerade damit verhindern, dass die Organisation in Routine und Stabilität erstarrt bzw. erst dadurch ein nachhaltiges Überleben der Organisation ermöglichen.

Paradoxie 1: Steuerung über die Zufuhr von Stabilität UND Irritation

Mehr noch als die beiden Mammutaufgaben an sich – Interventionen zum Herstellen von Stabilität einerseits und zur Förderung von Wandel andererseits – ist es die Gleichzeitigkeit, Beidhändigkeit und ständige Parallelität dieser scheinbar gegenläufigen Erfordernisse, welche die Aufgabe von Führung heute so enorm schwierig und so herausfordernd macht. Stabilität muss zunächst hergestellt werden, um dann immer wieder irritiert zu werden. Das ist ein bißchen wie: Dem Sysyphos zuerst auf den Berg zu helfen und ihn kurz vor dem Gipfel so zu irritieren, dass er den Felsblock doch wieder runterrollen lässt. Führungskräfte müssen ständig diese Paradoxie von stabilisieren und irritieren bearbeiten, bewältigen und in Balance halten und Entscheidungen treffen, welche Dinge zu stabilisieren sind bzw. welche zu verändern sind.

Was braucht das System gerade, um seine Aufgaben nachhaltig gut erfüllen zu können? Wo steht das System diesbezüglich gerade? Was muss sich verändern und was muss bleiben, damit Zukunft wahrscheinlich wird?

Führung aus dieser Perspektive erfolgt durch prozessorientierte Steuerung über Zufuhr und Irritation von Sicherheit. Diese Einschätzung vorzunehmen ist für die Führungskraft ebenso schwierig wie folgenreich: Interventionen in Richtung zu viel an Sicherheit als auch in Richtung eines zu viel an Irritation können schwerwiegende Folgen haben: für die Zukunftsfähigkeit von organisationalen Prozessen und Strukturen und für die Emotionen der beteiligten MitarbeiterInnen und Stakeholder.

Paradoxie 2: Ausrichtung der Organisation auf eine unbekannte Zukunft

Vertrackt wird die Sache überhaupt, wenn man sich vor Augen hält, dass der Entscheidungshorizont für die Bearbeitung dieser Paradoxie die ungewisse Zukunft ist. Organisationen müssen erfolgreich auf die Zukunft hin ausgerichtet werden. Das ist die Verantwortung von Führung. Gleichzeitig ist aber die Zukunft unbekannt, ungewiss, unsicher und unkalkulierbar. Wir sind somit in der nächsten Paradoxie oder eigentlich in der Paradoxie der Paradoxie.

„Gelöst“ wird diese Paradoxie insbesondere in großen Unternehmen derzeit häufig damit, dass die Bearbeitung wesentlicher Aspekte dieser Unsicherheit an (oft extra dafür geschaffene) Stabstellen und/ oder externe Berater delegiert wird. Mit der Konsequenz, dass dadurch eine intensive Auseinandersetzung des General Management mit dem Schlüsselproblem der Zukunftsausrichtung der Organisation auch weitgehend außer Blick und Verantwortung gerät (vgl. Wimmer & Schumacher 2009, S.172)[2]. Womit die scheinbare Lösung das Problem verschärft.

Paradoxie 3: Die Abbildung der relevanten Umweltkomplexität in der Organisation macht diese tendenziell unsteuerbar

Eine weitere Paradoxie entsteht aus dem Zusammenspiel von steigender Komplexität in den externen Umwelten und den Bearbeitungsmöglichkeiten der Organisation als System: Je komplexer die Welt ist, desto komplexer muss die Organisation sein, um den Problemstellungen gerecht werden zu können. Dadurch wird aber der Lösungsmechanismus Organisation selbst enorm komplex und tendenziell unsteuerbar. Führung steht also vor der nicht minder relevanten wie paradoxen Aufgabe, die für die Organisation relevante Komplexität der Welt in der Organisation abzubilden und dadurch die Organisation selbst permanent umzubauen und damit auch komplex und unübersichtlich zu machen. 
Ein Teil der heute in vielen Organisationen zu beobachtenden weitgehenden Change-Erschöpfung in Folge einer wenig fruchtbaren Bearbeitung dieser Paradoxie dürfte dabei einem noch immer weit verbreiteten linearen und mechanistischen Zugang zur Gestaltung von Organisationen geschuldet sein. So zeigen etwa Buono & Kerber (2010, S.81ff.) auf Basis ihrer langjährigen Beratungserfahrung und akademischen Forschung im Bereich „Organizational Change“, dass Führungskräfte sich mittlerweile zwar verstärkt selbst in Veränderungsprozesse einbringen und sich auch ein umfangreiches Repertoire an Skills und Tools im Bereich des Change-Management angeeignet haben. Die so initiierten Prozesse der Veränderung selbst würden dann aber doch weitgehend direktiven und mechanistischen Mustern folgen, welche der gegeben dynamischen Umweltkomplexität nicht gerecht würden.

"In this context, however, change is largely viewed as linear and mechanistic, as a series of discrete and, at times, traumatic events that need to be controlled to enable the organization to achieve its goals. Given the onslaught of changes that a growing number of organizations now face, however, this carefully planned approach is quickly becoming inadequate as success in rapidly changing environments demands experimentation, improvisation and the ability to cope with unanticipated occurrences and unintended repercussions." (Buono & Kerber 2010, p.82)

Ein neues Leadership-Mindset: Zweite Schlussfolgerungen

Widersprüche und Paradoxien scheinen für Organisationen in komplex-dynamischen Umwelten grundsätzlich geradezu konstitutiv zu sein – ich werde in diesem Blog daher auch noch öfter darauf zurückkommen. Aus der Perspektive von Führung und Gestaltung erfordern Paradoxien die Fähigkeit, Paradoxien überhaupt als solche wahrzunehmen, zu reflektieren, Balancen auszuloten, zu besprechen und in einen Klärungs- und Entscheidungsprozess zu bringen. Das Komplementäre immer ist dabei immer mit zu denken und mit zu kommunizieren. Mehrere „Wahrheiten“ sind möglich. Widersprüche die sich wechselseitig auszuschließen scheinen, können gleichzeitig „richtig“ sein.

Organisationen können heute kaum mehr durch lineare Interventionen im Sinne des Modells der trivialen Maschine gesteuert und entwickelt werden. Das Nachdenken über sich selbst, Lagebesprechungen, die Organisation von Reflexion und Feedback werden angesichts des obigen Befundes immer mehr zu DEN relevanten Steuerungsmitteln und Managementinstrumenten, über die Führungskräfte heute verfügen sollten.    
Es braucht in komplex-dynamischen Umwelten gemeinsame Einschätzung und Reflexion und den Einbau von Mechanismen, Rückkoppelungen und Schleifen, welche den Zustand des Systems tatsächlich diagnostizieren anstatt durch umfassende und bürokratisierte Kontrollsysteme einen flachen eindimensionalen Datenstrom von den dezentralen Einheiten zu den Zentralen zu etablieren (und dort den Eindruck Sicherheit und Machbarkeit erzeugen).

Anstatt direktiver Interventionen – die sich oft aus diesen umfangreichen Datensammlungen nur scheinbar logisch ableiten lassen -- besteht die Kunst des Führens vielmehr darin, Räume zu kreieren, in welchen sich das für den Leistungsprozess und den Prozess des Organisierens relevante Wissen emergent bildet und die Begrenzungen der Räume so zu setzen, dass das Wissen outputorientiert und strategieanalog gebildet wird. Ein komplexitätsgerechter Zugang zu Führung, der am Gedanken der Selbstorganisation anknüpft ist dabei von Nutzen. Denn gerade weil die Welt immer komplexer und unübersichtlicher wird und sich schnell ändert und Organisationen paradoxe Gebilde sind lautet die Schlüsselfrage ja: Wie können all die externen Dynamiken und Veränderungen so verdichtet reduziert und doch effektiv mit der Organisation in Kontakt und dort auch in Prozesse gebracht werden damit die produktive Koppelung der Organisation mit der Welt erhalten bleibt?

Am Beginn des letzten Beitrags (Blogbeitrag 5) habe ich damit eingeführt, daß sich ein neues Leadership Mindset auf zwei Ebenen manifestieren und entwickeln muss: Auf Ebene des Gegenstandes, als des Begriffs von Organisation und auf Ebene der Handlung, also der Intervention. Mit einem neuen Zugang zu Organisation gerade aus der Perspektive von Führung habe ich mich im letzten Beitrag und jetzt hier auseinandergesetzt. Der nächste Beitrag wird sich mit der Frage der Führungsintervention näher befassen.



[1] Interview mit Joschka Fischer, in: Die Zeit, Nr.46. (2011), S.8. „Vergesst die EU“.

[2] Die gesamte in diesem Beitrag im Text angeführte Literatur findet sich im für diesen Blog zentralen Literaturverzeichnis.